Die verlorene Bibliothek: Thriller
überrascht.
»Wie bitte?«
»Tut mir leid. Ich glaube, ich hätte eigentlich einen anderen Palast besuchen sollen. Der hier …« Sie zögerte. »Der hier passt nicht zu der Beschreibung, die man mir gegeben hat. Bitte, verzeihen Sie einer dummen Touristin.« Sie versuchte, dem Mann wieder das Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Unschuldige Verwirrung würde sie in diesem Gespräch vermutlich weiter bringen als genervtes Misstrauen. »Gibt es noch andere Residenzen der Sultane hier in Istanbul?«
»Ja«, antwortete der junge Mann zögernd. »Yildiz und Dolmabahce. Aber dieser Palast hier ist der berühmteste.« Er war sichtlich stolz auf seinen Arbeitsplatz.
»Und wo sind die anderen?«, fragte Emily. »Liegt vielleicht einer nahe am Wasser?«
»Yildiz liegt mitten in der Stadt«, lautete die Antwort. »Aber Dolmabahce liegt auf dem Meer.« Emily riss fasziniert die Augen auf.
»Und das ist ebenfalls ein bedeutender Ort«, fuhr der junge Mann fort. »Atatürk war dort. Dolmabahce ist für die türkische Geschichte sehr wichtig.«
»Und wie komme ich dorthin?«
»Sie können mit dem Bus oder mit dem Auto dorthin, aber mit dem Boot geht es schneller. Nehmen Sie am Fuß des Hügels die Fähre.« Er gab Emily eine kleine Broschüre über den Dolmabahce-Palast sowie einen Fahrplan der Fähre.
»Danke. Das ist großartig.« Emily strahlte den jungen Mann an.
»Aber«, fügte der Mann hinzu, »Sie werden bis morgen warten müssen. Hier haben wir bis sieben geöffnet, aber der Dolmabahce schließt schon um fünf.«
Die Geschwindigkeit, mit der Emilys Freude Niedergeschlagenheit wich, war erstaunlich. Der morgige Tag schien ihr schier unglaublich weit entfernt zu sein. Sie hatte ernst gemeint, was sie am Telefon zu Michael gesagt hatte: Sie war nur noch bereit, einen Tag von ihm getrennt zu sein, mehr nicht.
Der Mann schien ihre Enttäuschung zu fühlen.
»Es sei denn«, fuhr er fort, »Sie sind an den französisch-türkischen Beziehungen interessiert.«
Emily hob den Blick. »Wie bitte?«
»Heute Abend gibt es im Dolmabahce einen Vortrag zur Geschichte der französisch-türkischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Der Redner ist ein französischer Politiker …« Er griff nach einem Flugblatt und schaute sich den Namen an. »Ein Jean-Marc Letrouc.« Er gab Emily den Flyer. »Der Vortrag beginnt um sieben. Wenn Sie die letzte Fähre noch erwischen, könnten Sie es gerade noch rechtzeitig schaffen.«
Emily warf dem jungen Mann einen äußerst dankbaren Blick zu. Wären sie nicht durch eine Plexiglasscheibe voneinander getrennt gewesen, sie hätte ihn umarmt.
Emily Wess hatte zwar nicht das geringste Interesse an den französisch-türkischen Beziehungen, doch heute Abend war sie bereit, eine Ausnahme zu machen. Sie würde alles tun, nur um in den Palast zu kommen … in den richtigen Palast.
Emily gab dem jungen Mann ein kleines Trinkgeld und machte sich auf den Weg zum Meer.
KAPITEL EINUNDACHTZIG
18:35 U HR
Mit ernstem Gesicht drehte Jason sich zu seinem Partner um. Sein Gespräch mit dem Sekretär war kurz gewesen, die Anweisungen klar und deutlich.
»Unser Auftrag hat sich geändert«, berichtete er dem anderen Freund. »Wess soll bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit eliminiert werden, aber erst nachdem wir alles in Erfahrung gebracht haben, was sie weiß.«
Sein Partner hob die Augenbrauen, erwiderte aber nichts darauf. Sie hatten viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die Frau zu verfolgen, und sie schien noch immer den Spuren des Bewahrers zu folgen. Der Befehl, sie jetzt zu töten, kam überraschend. Er wusste, dass in Washington viel auf dem Spiel stand, doch Emily Wess führte sie zu etwas weit Größerem, zur Bibliothek.
»Wir werden sie uns schnappen, wenn sie das nächste Mal allein ist«, fuhr Jason fort. »Wir sollen sie kurz verhören und herausfinden, ob sie noch mehr weiß als das, was wir bereits wissen. Du wirst ihr das Handy und auch sonst alles abnehmen, was sie bei sich hat. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Liste sich noch weiter verbreitet. Und wenn wir alles haben, beenden wir den Job.«
»Wir können sie doch auch schon jetzt ausschalten«, erwiderte sein Partner. Sie folgten Wess einen steilen Hang zum Hafen hinunter. Offensichtlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass der Topkapi der falsche Palast war, und jetzt wollte sie zum Dolmabahce. Der Rat hatte beide Paläste über Jahre hinweg erkundet. Bis vor wenigen Minuten hatten die Freunde den Auftrag, Emily
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