Die verlorene Bibliothek: Thriller
Wess zur Fähre und dann zum Dolmabahce zu folgen; doch wenn der Palast nicht länger ihr Ziel war, konnten sie sie genauso gut jetzt ausschalten. »Wir können warten, bis sie die nächste größere Straße überquert hat, und sie uns dann schnappen.«
»Nein«, antwortete Jason. »Der Sekretär will keine Zeugen. Und man soll auch ihre Leiche nicht so schnell finden. Wir können keine Polizei gebrauchen.«
Sein Partner nickte. So würden sie es machen. Emily Wess würde einsam und allein sterben, ohne Zeugen und aller Dinge und allen Wissens beraubt, das sie besaß. Er schaute Jason an und bemerkte ein Funkeln in dessen Augen. Normalerweise zeigte er niemals eine Regung, wenn es galt, ein Leck zu schließen. Da war noch mehr … freudige Erwartung? Falls ja, dann konnte Jasons Blick nur eines bedeuten, besonders nach dem Anruf seines Vaters vor ein paar Minuten.
Der Sekretär hatte die Bibliothek lokalisiert.
KAPITEL ZWEIUNDACHTZIG
18:45 U HR
Emily verließ das Gelände des Topkapi-Palastes und marschierte den Hügel hinab zum Nordufer der zentralen Halbinsel von Istanbul. Sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass man sie beobachtete, dass sie verfolgt wurde, und doch blieb ihr nichts anderes übrig, als offen über die Straße zu gehen, wenn sie noch die letzte Fähre erwischen wollte. Laut Fahrplan fuhr die letzte Fähre nach Besiktas, dem Stadtteil, in dem auch der Dolmabahce-Palast lag, um genau sieben Uhr. Der Weg zum Anleger war nicht weit, knapp fünfzehn Minuten. Wenn Emily nicht noch aufgehalten wurde und rechtzeitig dort ankam, dann würde sie nur die ersten zwanzig Minuten der Veranstaltung verpassen; aber die würden vermutlich ohnehin nur die Einführung sein. Emily kannte solche Veranstaltungen nur allzu gut. Sie hoffte nur, dass der Abend nicht allzu formell sein würde und dass auch Zuschauer zugelassen waren.
Ich muss nur irgendwie durch die Tür , dachte sie. Einmal drin werde ich schon einen Weg finden, im Palast zu verschwinden.
Der Weg den steilen Hügel hinunter war jedoch länger, als es den Anschein gehabt hatte, und Emily beschleunigte ihren Schritt, als sie sah, dass es auf sieben zuging. Sie durfte dieses Boot auf keinen Fall verpassen.
Emily bog um eine Ecke und stand vor einer breiten Durchgangsstraße, die in Richtung Norden an der Küste entlangführte. Jenseits davon waren die Anleger des Fährhafens von Eminönü zu sehen. Emily suchte sich einen Weg durch den dichten Verkehr und hielt direkt auf die kleinen zweistöckigen Fähren am Anleger zu.
»Besiktas? Dolmabahce?«, fragte sie einen Mann, der irgendwie offiziell aussah. Er trug ein schmutziges Hemd, eine Schirmmütze und hatte ein Bündel Banknoten sowie ein paar Fahrscheine in der Hand.
Der schmerbauchige Mann grunzte und deutete auf eine Fähre am äußersten Ende des Anlegers. »Zahlen auf Boot.« Dann zählte er weiter sein Geld.
Rasch lief Emily zu der Fähre, die bereits die Motoren anließ und sich auf die Abfahrt vorbereitete. Sie sprang an Bord, zahlte die zwölf Lira für den Fahrschein und stieg die paar Stufen zum oberen Deck hinauf. Langsam entfernten sie sich von der beeindruckenden Skyline mit dem Topkapi-Palast, und Emily atmete erst einmal tief durch. Sie hatte es auf das Boot geschafft, und da sie erst im letzten Moment auf die schon fahrende Fähre gesprungen war, glaubte sie, alle potenziellen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Sie trat an die weiße Metallreling und blickte auf die Stadt und den Bosporus hinaus.
Hinter der Fähre ragte der mächtige Hügel auf, den Emily gerade hinuntergelaufen war, mit der Hagia Sophia, der Blauen Moschee und den Mauern und Balustraden des Topkapi-Palastes. Überall ragten die Minarette unzähliger Moscheen in den Himmel. Es war wie in einem Bilderbuch zu Tausendundeiner Nacht.
Dann drehte Emily sich zum Bug um. Links von ihr lag Europa und rechts Asien mit dem Bosporus dazwischen. Seit Jahrtausenden blühte hier schon der Handel. Und auch wenn überall die Zeichen der Moderne zu sehen und zu hören waren, Satellitenschüsseln, Werbetafeln und Autos, hatte Istanbul für Emily etwas Zeitloses. Eine Stadt, die sich über zwei Kontinente erstreckte und zwei Großreichen als Hauptstadt gedient hatte. Und auch wenn heutzutage Ankara die Hauptstadt war, so würde Istanbul doch immer das Herz der Türkei bleiben.
Links kam allmählich der Dolmabahce-Palast in Sicht. Er hätte sich nicht mehr vom Topkapi-Palast unterscheiden können. Emily klappte die kleine
Weitere Kostenlose Bücher