Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Rike mein te es doch nicht böse.
Rike sah jetzt bedrückt drein.
»Mama …«, begann Lea, hielt dann aber inne. Stattdessen versuchte sie, das schlechte Gewissen mit einem gro ßen Schluck Kaffee herunterzuspülen. Dann setzte sie ihre Tasse ab.
»Aber die Nordsee war ja auch immer sehr schön.«
»Das Meer ist gleich hinter dem Deich«, sagte Rike, und dann lachten sie beide über den Scherz, der sie seit ihrem ersten gemeinsamen Nordseeurlaub begleitete. Das Meer war nämlich mitnichten gleich hinter dem Deich gewesen, ebenso wenig wie sich der Deich gleich hinterm Haus befunden hatte.
Lea biss genüsslich in ihr Croissant und bemerkte, dass Rike schon wieder sehr besorgt aussah. Es war unverkennbar, ihre Mutter wollte mit ihr über etwas Bestimmtes reden.
»Nun mal ehrlich, Lea-Maus, wie geht es dir?«
»Gut, wie soll es mir schon gehen?«
Leas Stimme klang schärfer, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Nur fünf Minuten später war das Gespräch an einer Stelle angelangt, die Lea nur zu bekannt war.
»Aber du musst doch nicht gleich wütend werden. Frau Baumann, die neben Marc wohnt, hat mich eben angerufen und mich gefragt, ob du immer noch mit dem jungen Weber zusammen bist, und …«
»Und dann habt ihr beide ein wenig über mich getratscht, was? Um sieben Uhr morgens? Ich bin dreißig, Mama, erwachsen. Ich komme zurecht.«
Für einen Moment schwiegen sie beide. Lea spürte, wie ihre Wut so rasch verrauchte, wie sie gekommen war. Warum war sie heute nur so unbeherrscht?
»Es tut mir leid, Mama.«
Rike sah sie ernst an. »Du bist mein Kind, Lea, und du wirst es immer bleiben.«
»Ich weiß.«
Rike zupfte jetzt unruhig an ihrem weiten indischen Oberteil, offenbar unschlüssig, wie sie das Gespräch wieder auf Marc bringen konnte.
»Über dich getratscht, wie das klingt«, versuchte sie es dann kopfschüttelnd. »Ich habe mir Sorgen gemacht, Lea. Ich will, dass du glücklich bist, und das bist du einfach nicht. Dir fehlt irgendetwas …«
»Mir fehlt …«
Lea verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wollte es nicht hören, doch das änderte nichts. Rike hatte recht, ihr fehlte etwas. Sie wusste das selbst. Sie holte tief Luft.
»Aber ich will einfach nicht, dass du meine Angelegen heiten mit Frau Baumann besprichst.«
Rike sah sie überrascht an.
»Himmel, Lea, wenn sie mich nicht angerufen hätte, wüsste ich doch wieder mal gar nicht, was passiert ist. Wann hättest du es mir denn gesagt?«
Lea antwortete nicht. Auch Rike schwieg wieder.
»Ich habe eigentlich nie gedacht, dass diese Beziehung hält«, sagte sie dann.
»Weil deine Beziehungen nie …«
Lea schluckte die letzten Worte herunter, als sie den Ausdruck von Verletztheit auf Rikes Gesicht sah.
»Entschuldige, Mama.«
Es war besser, wenn sie jetzt für ein paar Minuten in ihr Schlafzimmer ging, bevor sie noch etwas sagte, was sie wirklich bereute. Wie konnte jemand, den man so sehr liebte, einen nur immer wieder so auf die Palme brin gen?
Mit einem Ruck zog Lea die Tür hinter sich zu. Nur einen Moment alleine sein. Im großen Spiegel am Schlafzim merschrank sah sie ihr Ebenbild: klein, zierlich, aber etwas zur Rundlichkeit neigend, weshalb sie schon als Jugendliche zahllose Diäten begonnen hatte. Du siehst aus wie eine kleine Südländerin, hatte Marc oft gesagt. Schau dir einmal dein Gesicht an, diese schweren Augenlider, deine Hautfarbe. Bekommst du eigentlich je Sonnenbrand?
Nein, bekomme ich nicht, dachte sie, aber wahrscheinlich werde ich irgendwann einen Damenbart haben und kugelrund sein.
Lea stellte die Reisetasche ab, die sie sich im Flur gegriffen hatte. Draußen in der Küche konnte sie ihre Mutter rumoren hören. Wie so oft legte sich ihre Wut bereits wieder. Sie kannte ihre Mutter doch, sie meinte es nie böse. Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass sie Oma wurde?
Rike hatte spät geheiratet. Lea war kurz darauf gekom men, die Scheidung nur einige Monate später eingeleitet worden. Danach hatte es nie wieder Kontakt zu Leas leiblichem Vater gegeben. Er hatte sich einfach nicht mehr gemeldet. Bis heute wusste Lea nicht mehr von ihm als seinen Namen: Leon.
Laut Rike war sie ein pflegeleichtes Kind gewesen, also hatten sie sich wahrscheinlich nicht wegen ihr geschieden. Als Lea sechs Jahre alt gewesen war, hatte sie ihren Vater erstmals vermisst. Damals hatte sie begonnen, sich Geschichten über ihn auszudenken. Als sie noch älter geworden war, hatte sie andere Familien mit Vätern
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