Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
genau beobachtet. Sie hatte sich ausgemalt, wie ihre eigene Fami lie einmal aussehen würde: Vater, Mutter und Kind gehör ten dazu – daran hatte sie nie gezweifelt.
Rike war unterdessen immer mal wieder eine Beziehung eingegangen. Länger als zwei Jahre hatte keine gehalten. Zudem war keiner der Männer in den engsten Familienkreis, den inneren Zirkel, vorgelassen worden, der nur Lea und Rike selbst vorbehalten blieb. Trotzdem hatte Rike mit dem letzten Partner eine Reise nach Indien ge plant, die sie allerdings nie angetreten hatte. Vielleicht hatte ihre Mutter ja tatsächlich Sehnsüchte, von denen Lea nichts ahnte? Zurückgehalten hatte sie sicherlich wieder einmal ihre Angst vor dem Ungewissen.
Lea stellte sich seitwärts zum Spiegel und betrachtete sich noch einmal eingehend, streckte den Bauch heraus. Wie lange mochte es noch dauern, bis man ihr die Schwan gerschaft ansah? Zwei oder drei Monate, oder mehr? Was würde Lars, der Besitzer des Cafés, dazu sagen, in dem sie arbeitete? Lea stellte sich wieder frontal vor den Spiegel, trat noch einmal näher heran, schaute in ihre dunklen Augen, starrte so lange, bis ihr der eigene Anblick fremd wurde. Das hatte sie schon als Kind manchmal getan. Sie hatte vor dem Spiegel gestanden und sich angeschaut, bis sie das eigene Gesicht nicht mehr zu kennen meinte.
Draußen war es mittlerweile still. Lea wartete noch einen Augenblick und öffnete dann die Tür. Sie hatte die Küche noch nicht erreicht, als sie auf leises Rascheln aufmerksam wurde. Lea beschleunigte ihre Schritte. Im nächsten Moment schon stand sie in der Küchentür und starrte ihre Post in Rikes Hand an. Ihre Mutter hob den Kopf, einen leisen Anflug schlechten Gewissens auf dem Gesicht.
»Was«, fragte sie trotzdem und reckte den Australienprospekt hoch, »willst du denn hiermit?«
D rittes Kapitel
Claire wusste nicht, ob sie ein Gefühl der Erleichterung verspürte, als der Flieger in Frankfurt am Main landete, oder ob die Angst vor dem, was nun vor ihr lag, nun überhandnehmen würde. Sie war nicht bei den Ersten, die die Maschine verließen. Nein, sie hatte den Trubel mit Bedacht gemieden, war sogar als eine der Letzten von Bord gegangen und stand nun neben dem Gepäckband. Eben hatte sie ihren Samsonite-Koffer ausgemacht. Ein junger Mann eilte ihr zu Hilfe, als sie darum kämpfte, ihn vom Band zu wuchten. Nur einen Augenblick später hatte sie die Passkontrolle hinter sich gebracht.
Deutschland. Zu Hause. Das hatte sie sich immer wieder gesagt. Es fühlte sich dennoch seltsam an.
Claire stellte ihren Koffer ab und sah sich um. Hier und da gab es Fenster, durch die man die großen Maschinen bewundern konnte. Menschen sämtlicher Altersstufen, Urlauber und Businessreisende eilten vorüber. Dazwischen schlenderte immer mal wieder jemand, andere hatten den Blick auf die Anzeigetafeln gerichtet. Dort stand ein Grüppchen Inderinnen schnatternd und plappernd beieinander. Eine Frau in einem Sari beugte sich zu einem kleinen Mädchen herunter. Grüppchen von Stewardessen und Stewards mit ihren offenbar obligatorischen kleinen Roll koffern befanden sich auf dem Weg von oder zu ihren Arbeitsplätzen. Desorientierte Reisende wanderten von Halle zu Halle, andere waren auf der Suche nach einem Platz zum Ausruhen. Ein dicker Mann hing auf einem der unbequemen Flughafenstühle und schnarchte mit weit geöffnetem Mund. Über Claires Kopf wechselten wieder einmal ratternd die Informationen auf einer der großen Tafeln. Aus zwei Geschäften schimmerte Licht hinaus auf den braunen Kunststoffboden mit den großen Noppen. Zwei elegant gekleidete Passagierinnen begutachteten das Parfumangebot.
Immer wieder hielt Claire für einen Moment an und verschnaufte ein wenig. Als sie das erste Schild gesehen hatte, das auf einen Ausgang verwies, war sie sicher gewesen, dass es nicht mehr weit sein konnte, aber sie hatte sich geirrt. Die Wege zogen sich. Als Claire endlich den Stand mit den wartenden Taxis erreicht hatte, fühlte sie sich ziemlich erschöpft. Neben dem ersten Wagen blieb sie stehen, wartete darauf, dass der Taxifahrer ihren Koffer in den Kofferraum hob, ließ sich selbst auf den Rücksitz helfen.
»Ja?« Der Mann musterte sie über den Rückspiegel.
Claire suchte in ihrer Handtasche nach der Adresse, die sie mit der Hilfe des Detektivs recherchiert hatte, und nannte ihr Ziel. Wenig später surrte der Mercedes los.
Mittlerweile hatten sie den Flughafen längst hinter sich gelassen, und Claire hing ihren
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