Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
verstiegen zu behaupten, sie sehe die Welt durch einen blauen Schimmer. Heute wusste Rike natürlich, dass das Blödsinn war. Damals hatte es wehgetan.
»’s ist eben ein hässliches, bockiges Kind«, hatte ihre Groß mutter gesagt, »kann man nichts machen, arme Felicitas.«
Arme Felicitas, hatte es oft geheißen. Felicitas war ihre Mutter gewesen, oder zumindest die, die sie lange dafür gehalten hatte.
Sie beugte sich wieder näher zum Spiegel hin. Schwarze Augen, dichte Augenbrauen, die sie zu einer schmaleren Linie zupfte, ein zu breiter Mund. Sie sah wirklich aus wie eine Spanierin oder eine Italienerin, auch wenn sie im Urlaub am liebsten an die Nordsee fuhr.
Mit ruhigen Bewegungen zog sie den dünnen Goldring an, den sie noch von ihrem Vater hatte, und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Was, um Himmels willen, wusste Lea von Australien? Was verbarg ihre Tochter vor ihr?
Lea stemmte die Einkäufe auf den Tisch und räumte zu allererst die Dosen und Gläser mit sauer eingelegtem Fisch in ihre Vorratsschublade. Mitten im Geschäft hatte sie plötz lich Appetit auf Essiggurken und Hering verspürt, dazu Erdbeeren und Tomaten. Und Schokolade. Der geliebte Kaffee bereitete ihr auf einmal Unwohlsein.
Fast vier Wochen Ferien noch, ihr ganzer Jahresurlaub. Was sollte sie alleine mit der Zeit anfangen? Natürlich bestand die Möglichkeit, einfach ins Café zu gehen und den Urlaub abzusagen. Lars mochte es ohnehin lieber, wenn sein Personal auf Abruf bereitstand. Und wann sollte sie ihm von der Schwangerschaft erzählen?
Lea öffnete eine Packung süße Erdbeermilch, die sie als Kind in der Schule zum letzten Mal getrunken hatte, und schenkte sich ein Glas voll ein. Natürlich würde Lars wenig begeistert sein. Sie verzog das Gesicht, während sie an das bevorstehende Gespräch dachte. Dann streifte ihr Blick den Zettel mit dem Arzttermin an der Küchen pinnwand. Diese Woche schon Ihr Leben würde sich von Grund auf ändern, so viel stand fest. Sie spürte, wie sich Ungewissheit in die Freude einschlich.
Zuerst einen Schluck Milch, dann denke ich weiter nach …
Als es an der Haustür klingelte, fuhr sie zusammen. Mama? Aber nein, Rike war ja in Urlaub gefahren, an die Nordsee, wie jedes Jahr. Das musste ein Versehen sein. Sie erwartete gewiss keinen Besuch. Sie setzte erneut zum Trinken an. Wieder klingelte es.
Dann wohl die Post, sicherlich hatte inzwischen aber schon jemand anders geöffnet. Lea wartete noch einen Moment lang, schaltete dann das Radio ein – auf die Elf-Uhr-Nachrichten folgte eben der Verkehrsfunk – und öffnete das Fenster. Von oben konnte sie niemanden sehen. Drei Minuten später klingelte es erneut. Lea ging in den Flur und nahm den Hörer von der Gegensprechanlage.
»Ja?«
»Frau Kadisch?«
Eine unbekannte, etwas unsichere Stimme war unten zu hören. Doch die Post? Mechanisch drückte Lea auf den Türsummer und zog sich wieder in die Küche zurück.
Als es fünf Minuten später an der Tür klingelte, schreckte sie hoch. Mit einem Ruck stellte sie das Erdbeermilch-Glas ab. Im Flur jagten sich ihre Gedanken.
Besuch? Aber wer konnte das sein? Millie war in Urlaub, sonst hatte sie kaum Bekannte, von weiteren Freunden ganz zu schweigen.
Vor der Tür angekommen zögerte sie kurz, dann öffnete sie sie einen Spalt. Das, was sie im nächsten Moment verspürte, war Verblüffung.
»Frau Kadisch?«, wiederholte die weißhaarige, ältere Dame mit den dicken Brillengläsern draußen vor der Tür vorsichtig.
Lea nickte.
»Claire Hunter.«
Irgendetwas regte sich in Leas Erinnerung.
»Ja?«
»Dürfte ich hereinkommen?«, fragte Mrs. Hunter.
Lea zögerte und öffnete die Tür dann weiter. Im Eintreten blickte Claire Hunter sich rasch um. Lea wartete ab. Claire Hunter hatte ihre Neugier in diesem Moment offenbar befriedigt und blickte Lea wieder an. Kurz schien sie zu überlegen, was sie sagen sollte, dann gab sie sich einen Ruck.
»Ich weiß, dass es unglaublich für Sie klingen wird, Frau Kadisch, aber ich möchte nicht darum herumreden, dazu eigne ich mich nicht«, die ältere Dame zögerte nun doch, bevor sie weitersprach, »ich bin Ihre Großmutter, Frau Kadisch.«
»Aus dem Swan Valley. Bei Perth«, sagte Claire Hunter eben und nahm die Tasse Kaffee aus Leas Hand entgegen.
Australien, Perth, wiederholte Lea bei sich. Dann fiel es ihr wieder ein: Der Werbeprospekt, der in ihrem Briefkasten gelandet war. Wohl doch nicht so versehentlich, wie sie angenommen hatte.
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