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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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Gedanken nach. Nicht zum ersten Mal auf dieser Reise dachte sie an die Zeit zurück, als sie dieses Land verlassen hatte. 1932 war das ge wesen, und sie war zum ersten Mal an Bord eines Ozean riesen gegangen. Claire dachte an Papierschlangen, die sich gedehnt hatten, bis sie schließlich gerissen waren, an Taschentücher, die Adieu gewunken hatten. Und sie dachte an den schmalen Koffer, in dem alles gewesen war, was sie damals ihr Eigen genannt hatte.
    Mein ganzes Leben war darin, oder die Scherben, die davon übrig geblieben waren. Und wenn Johanne nicht gewesen wäre, hätte ich noch nicht einmal das bei mir gehabt, und natürlich auch nicht die gut gefüllte Brieftasche, die mir über die ersten, schweren Wochen in der neuen Heimat hinweggeholfen hat.
    Es war eine andere Zeit gewesen damals. Die junge Claire Neuberger hatte fast nichts mehr besessen, Claire Hunter dagegen reiste mit einem mächtigen Samsonite-Koffer, den sie zu Hause mindestens zehnmal ein- und wieder ausgepackt hatte, weil sie sich nicht hatte entschei den können, was sie unbedingt mitnehmen musste.
    Es ist kalt in Deutschland, hatte sie sich gesagt und die Strickpullover eingepackt, für die sie sonst so selten Verwendung fand, dazu Strumpfhosen, warme Flanellhosen und feste Schuhe.
    Mit dröhnendem Motor zog ein Sportwagen an ihnen vorbei. Claire zupfte die Ärmel ihrer Kostümjacke zurecht und wischte sich dann mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Es war doch wärmer, als sie gedacht hatte, der Himmel war strahlend blau. Nun gut, es war Sommer. Ein deutscher Sommer, aber eben doch Sommer.
    Mit einem Mal zitterte sie. Du hast Angst, dachte sie, aber Angst ist kein guter Ratgeber. Du darfst keine Angst haben. Aber das war leichter gesagt als getan.
    Claire lehnte sich im Autositz zurück und starrte die Landschaft an, die draußen an ihr vorbeiflog. Das Deutsch land, in das sie zurückgekehrt war, war ihr fremd gewor den, das hatte sie bereits am Flughafen bemerkt. Die Spra che. Die Lichter. Die Gerüche. Die Schnelligkeit. Die vielen Menschen. Sie kannte nichts davon. Das Deutschland, das sie verlassen hatte, war langsam gewesen. Übersichtlich und träge.
    Und dabei hatten sie sich schon damals gewundert, wie schnell alles geworden war. Vielleicht dachte jede Generation, ihre Zeit sei schneller geworden …
    Wieder sah sie Johanne und sich selbst vor sich. Johanne in einem geblümten Nachmittagskleid aus Crêpe de Chine, sich selbst in einer weißen Bluse und einem bra ven Rock. Aber das war nicht zu vergleichen mit heutigen Zeiten. Wieder dachte sie an die Menschen, die im Flughafen geschäftig hin und her geeilt waren. So viele Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern. Dachte an Worte, die hin und her geflogen waren, Worte in so vielen verschiedenen Sprachen. Sie fragte sich, was sie erwartete. Sie fragte sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie fragte sich, ob ihr dieses Deutschland irgendwann wieder weniger fremd sein würde.
    Rike blickte in den Spiegel. Der alljährliche Nordsee urlaub stand bevor. Vier Wochen. Plus eine Woche Kur die ses Mal, die sie sich von der Krankenkasse erkämpft hatte.
    Soll ich zu Hause bleiben?, überlegte sie. Vielleicht braucht Lea mich …
    Sie konnte heute einfach nicht aufhören, sich anzustarren. Der Pagenkopf saß glatt geföhnt genau auf Kinnlänge, seit sie ein junges Mädchen gewesen war. Nur trug sie heute keine Riesenschleife mehr mitten auf dem Kopf, wie das die Großmutter von ihr verlangt hatte. Rike rückte näher an ihr Spiegelbild heran, riss die Augen auf und fuhr mit einem Finger über die Falten, die sich rund um ihre Augen eingegraben hatten.
    Rike Kadisch, geborene Neuberger. Die lange Kette aus Türkisen, die sie zu ihrer weiten, weißen indischen Bluse trug, passte gut zu ihren dunklen Augen. Leon Kadisch hatte sich damals als Erstes in diese Augen verliebt. Das hatte er jedenfalls gesagt, bevor er mit ihr ein Kind gezeugt hatte. Die ersten Monate war er ein guter Vater gewesen, hatte viel mit Lea gespielt und sie kaum aus den Augen gelassen, doch dann hatte sich etwas geändert. Zu erst schleichend, dann unübersehbar. Als Lea sechs Monate alt gewesen war, war er ausgezogen und hatte bald jeden Kontakt abgebrochen.
    Erneut starrte Rike in ihre dunklen Augen. Früher hat ten sie die Kinder gefragt, ob sie mit diesen Augen denn genauso gut sehen könne wie die helläugigen. Eines der blauäugigen Mädchen aus ihrer Klasse hatte sich sogar dazu

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