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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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größeren Jungen abgeguckt hatte.
    »Traust dich nicht, gell? Willste nach Hause, Wolfi?«
    Wolfgang musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um dem größeren Bruder direkt ins Gesicht zu sehen. Gegen die helle Sonne blinzelte er. Er zögerte, schob die Unterlippe vor und schüttelte dann heftig den Kopf.
    »Nö, hab keine Angst«, quetschte er hervor.
    Bernd schaute ihn prüfend an. Natürlich hatten sie auch die großen Jungs reden hören, von dem Weingut und seinem seltsamen Besitzer. Es galt unter den Älteren als Mutprobe, sich dem Haus zu nähern, und wenn es Bernd und Wolfgang gelingen wollte, dann würden sie die Jüngs ten sein, die diese Probe je bestanden hatten. Gestern waren sie erstmals hier gewesen, und heute – so hatte Bernd beschlossen – würden sie diese Mauer überwinden.
    Und nicht nur das. Er hatte sich auch vorgenommen, sich dem Alten zu zeigen, denn das hatte wirklich schon lange niemand mehr gewagt.
    Ganz genau hatte er sich alles ausgemalt. Zuerst hatten sie in Sichtweite der Mutter auf dem Platz vor dem Haus gespielt. Dann hatte ihr großer Bruder Rüdiger auf sie aufpassen sollen, doch dessen Freundin Jutta war bald aufgetaucht, sodass die beiden nur noch Augen füreinander gehabt hatten.
    Jutta war die, über die die älteren Frauen wisperten, die, deren Röcke immer etwas zu bunt und zu weit ausgestellt waren und deren Pferdeschwanz zu keck wippte. Sagte Mutter. Jutta kaute Kaugummi, hörte Teufelsmusik und hatte ihm auch schon einmal Kaugummis mitgebracht. Jutta war das schönste Mädchen im Neubaugebiet von Bonnheim. Bernd hätte sie stundenlang beobachten kön nen, doch als Tante Ilse gekommen war und kurz darauf ihre und Mutters Stimmen zu hören gewesen waren, hatte dem Plan nichts mehr im Weg gestanden.
    Zuerst langsam und unauffällig, dann immer schneller hatten die Jungen sich entfernt. Sie waren den Hauptweg entlang durch das Dorf geschlendert, hatten dann eine Seitenstraße gewählt, waren schneller gelaufen und schneller. Irgendwann war der Asphalt in Schotter übergegangen, darauf war Lehm gefolgt, in den die Sonne eine Landkarte aus rissigen Linien gebrannt hatte. Der letzte Regen lag schon länger zurück. Dort, wo in den Weinbergen und auf den Feldern gearbeitet wurde, stiegen Staubwolken auf. Die meisten Kinder und Jugendlichen badeten bei diesem Wetter unten am Fluss. Wolfgang hatte den Grüppchen durchaus traurig hinterhergeschaut, und für eine Weile waren ihnen deren muntere Stimmen auf dem Weg gefolgt.
    Hier, hinter dem Weingut, war es einsam und still. Wie der spürte Bernd Angst in sich aufsteigen, packte entschlossen den Kaugummi aus dem Butterbrotpapier und schob ihn sich in den Mund. Schon fühlte er sich besser. Rüdiger hatte ihm gezeigt, wie man alte Kaugummis in Zucker einlegte und ihnen damit wieder etwas Geschmack verschaffte. Wolfgang zupfte den Bruder am Ärmel seines kurzen Karohemds.
    »Krieg ich auch einen?«
    »Hab keinen mehr.« Bernd beschattete seine Augen gegen die Sonne. Je näher sie dem alten Gebäude gekom men waren, desto häufiger und länger hatte Wolfgang ge zögert, doch Bernd hatte ihn jedes Mal überreden können weiterzugehen. Nach etwa einer Dreiviertelstunde, in der sie hier noch ein Insekt betrachtet und dort nach einem Bussard Ausschau gehalten hatten – aber in der Hitze wollte keiner fliegen –, hatten sie ihr Ziel erreicht.
    Hinten, das wussten sie von Rüdiger, gab es irgendwo eine Lücke in der Mauer. Durch einen halb zugewachsenen Pfad voller Gras, Brombeerranken und silbergrünen Disteln schlichen Bernd und Wolfgang vorsichtig darauf zu. Tatsächlich war an einer Stelle die Mauer zusammengebrochen. Erde und Steine lagen in einem wilden Wirrwarr übereinander.
    Wieder zögerte Wolfgang, wieder überredete ihn Bernd. Als Älterer kletterte er voraus und reichte dem Jüngeren dann die Hand. Sie mussten sich an weiteren Brombeerranken vorbeidrücken, schlichen dann durch einen verdorrten Garten, in dem eindeutig mehr gegossen werden musste. Ein paar Kartoffelpflanzen ließen müde die Köpfe hängen. Reihen von Karotten und Kohl waren verdorrt. Nicht zum ersten Mal fragte Bernd sich, wie der Alte wohl aussah, über den man im Dorf nur flüsterte.
    Alt, hatte Rüdiger gesagt, uralt.
    Früher war er wohl manchmal ins Dorf gekommen, hatte sich in der Dorfschenke einen Schoppen Wein oder ein Remischen geholt, hatte ein Schwätzchen gehalten mit Menschen, die inzwischen schon lange verstorben waren. Bernd war damals

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