Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
die wenigen letzten Schritte bis zum Rand des Abhangs hin, wandte langsam den Blick in Richtung Senke. Die kaum aufge gangene Sonne tauchte eben erst die gegenüberliegenden Hügelkuppen in Schlieren aus Rot, Blau und Lila, während die Talsohle noch im morgendlichen Grau dalag und Nebelschwaden vom Boden aufstiegen. Von irgendwoher hörte sie einen Bus. Marc tauchte vor ihrem inneren Auge auf, die Arme abwehrend vor der Brust ver schränkt, den Mund zu einer schmalen Linie verzogen: Ich bin kein Vater, und ich will auch keiner sein. Du kannst mich nicht zwingen.
Lea kniff die Augen zusammen.
Alleinerziehend, deine Mutter wird sich freuen, schoss es ihr durch den Kopf. Rike, die selbst keine einfache Kindheit gehabt hatte – nach dem Tod der eigenen Mutter war sie bei den äußerst strengen Großeltern aufgewachsen –, war stets auf Sicherheit bedacht. Eine ledige Mutter gehörte ganz gewiss nicht in ihre Vorstellungswelt.
Da wird sie mir aber einiges zu sagen haben, dachte Lea.
Vorerst konnte sie die Sache natürlich für sich behalten, musste als Nächstes nur einen Termin beim Frauenarzt ausmachen.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Noch einmal stahl sich Marc in ihre Gedanken, dieser Sonnyboy mit den dichten, dunkelblonden Haaren und den blaugrünen Augen, der doch eigentlich gar nicht ihr Typ war und mit dem sie doch lange gemeinsame Jahre verbracht hatte.
Sie wusste selbst nicht genau, wie das hatte geschehen können.
Leas Blick fiel wieder auf den Polo, wie er da so kurz vor dem Abgrund des Weinbergs stand.
Das war knapp, dachte sie, so verdammt knapp.
Unwillkürlich strich sie sich mit der rechten Hand über ihren noch flachen Bauch.
Wie groß dieses Wesen in ihr wohl war? So groß wie eine Erbse vielleicht, oder sah es aus wie eine kleine Bohne? Sie meinte, einmal ein solches Bild in einem Buch über Schwangerschaft gesehen zu haben.
Meine kleine Bohne.
Wieder strich Lea über ihren Bauch. Sie musste dieses Wesen schützen. Sie hatte sich doch immer Kinder gewünscht, natürlich im Rahmen einer ganz normalen Familie, aber … Ein neuer Gedanke durchströmte sie und gab ihr Kraft. Sie würde ein Kind haben, und sie würde ihm Geborgenheit schenken. Die Geborgenheit, die sie selbst als Kind vermisst hatte.
Das Morgenlicht wurde nun zunehmend kräftiger, leckte an den Spitzen der ersten Weinstöcke. Es würde langsam auch die Senke ausfüllen und mit der zunehmenden Wärme den Nebel vertreiben. Mit einem Seufzer ließ sich Lea ins Gras fallen und sah zu, wie die Sonnenstrahlen mehr und mehr von der Umgebung in Besitz nahmen. Ihre Tränen waren getrocknet. Die Taunässe kroch durch ihre Jeans. Auch ihre Füße in den grauen Wildlederballerinas waren längst feucht, aber sie schenkte dem keine Beachtung.
Es ist schön hier, dachte sie.
Sie zog die Knie an, legte die Arme darum und starrte in das Blättergewirr der Weinreben. Hinter ihr war Mo torenlärm zu hören, das charakteristische Brum men eines VW Käfers. Lea blieb auch sitzen, als hinter ihr Reifen knirschten und der Motorenlärm verstummte. Im nächsten Moment wurde eine Tür geöffnet und wieder zugeschlagen. Lea hörte rasche Schritte, dann eine Stimme.
Erst in diesem Moment kam ihr in den Sinn, welches Bild sie hier abgab: ein Wagen am Rand des Weinbergs, eine offene Tür, eine Frau am Boden. Lea sprang auf. Der Autoschlüssel bohrte sich in ihre Handfläche, so fest schloss sie die Finger darum. Etwas von ihr entfernt stand ein dun kelhaariger Mann vor einem grell orangefarbenen VW Käfer. Lea registrierte ein braun kariertes Hemd und beige, ausgebeulte Cordhosen, dazu ungebärdiges Lockenhaar, fast schulterlang, und ein Vollbart. Jesus, mit einem Zollstock in der Seitentasche seiner Hose.
»Geht es Ihnen gut?«
»Danke, ja.« Lea steuerte entschlossenen Schrittes auf ihr Auto zu. »Ich habe nur angehalten.«
Der Fremde sagte nichts, musterte sie aber einen Moment länger und lächelte dann. Lea blieb ernst. Als sie in ihrem Auto saß, zitterte ihre Hand so stark, dass sie den Schlüssel zuerst nicht ins Zündschloss bekam. Der Fremde stand immer noch abwartend neben seinem Käfer. Lea hob grüßend die Hand, drehte den Schlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. Als sie wieder parallel zur Straße stand, ließ sie das Fenster herunter.
»Vielen Dank noch einmal, aber es geht mir wirklich gut.«
Der Mann nickte nur. »Ist klar«, sagte er dann, »ich wollte nur noch den Rest des Sonnenaufgangs bewundern. Man hat heute
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