Die verlorene Koenigin
verschwunden bist und das Unglück seinen Lauf nahm.« Er nahm Tanias Gesicht in beide Händen. »Sie war fast so schön wie du«, sagte er. »Nicht gan z – aber fast.«
Von Gefühl überwältigt, lehnte sie ihre Stirn an die seine. »Oh, Edric«, sagte sie. »Was soll ich nur einen ganzen Monat lang ohne dich machen?«
»Ich bin für dich da«, versicherte er und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Ich werde hier sein, und auch wenn wir uns nicht so oft sehen können, wie wir es gerne tun würden, können wir doch noch telefonieren und uns Nachrichten schicken. So schlimm wird es also nicht. Außerdem bin ich in Geduld geüb t – wir im Elfenreich haben die letzten fünfhundert Jahre gewartet.«
Sie seufzte. »Was ich wohl in der ganze Zeit in der Welt der Sterblichen getan habe? Mir kommt es ganz schön seltsam vor, dass ich Jahrzehnte hier gelebt habe, aber nicht weiß, wer ich war und was ich so gemacht habe.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wie ich starb. Oder auch nur, wie oft ich gestorben bin.«
»Zerbrich dir doch darüber nicht den Kopf«, sagte Edric. »Konzentrieren wir uns lieber auf die Zukunft und darauf, Titania zu finden.«
Tania riss sich aus ihren düsteren Gedanken. »Du hast Recht«, sagte sie. »Hoffen wir also, dass sich jemand im Postamt von Richmond an sie erinner t – aber selbst wenn, was bringt uns das?«
»Dann haben wir wenigstens eine vage Ahnung, wo wir in Richmond suchen müssen«, sagte Edric. »Angenommen, sie ist zu dem Postamt gegangen, das in der Nähe ihrer Wohnung oder ihrer Arbeitsstelle liegt, dann können wir in den umliegenden Läden und Büros herumfragen. Aber wenn wir zu lange mit der Suche warten, wird es immer unwahrscheinlicher, dass sich jemand an sie erinnert, und dann haben wir doppelt so viel Arbeit.«
»Ja, das sehe ich ein«, sagte Tania. »Ich sag dir was: Ich versuche am Samstag wegzukommen. Wenn ich es schaffe, meinen Eltern weiszumachen, dass ich eine Theaterprobe habe, können wir heimlich nach Richmond fahren.«
Die Schulklingel ertönte zum Pausenende.
»Bis zur Probe heute Nachmittag«, sagte er.
Sie nickte. Als sie begann, die Treppe hinaufzugehen, sprach er leise hinter ihr. »Nun gute Nacht! So süß ist Trennungsweh e …«
Sie drehte sich lächelnd um. »Das ist Julias Text«, sagte sie.
»Ich weiß, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.«
»Weißt du, was du bist?«, fragte sie, während sie weiterging.
»Edric Chanticleer, Höfling im Elfenpalast, einst im Dienst des Verräters Gabriel Drake, jetzt einzig und allein König Oberon und seiner Familie verpflichtet.«
»Nein, ein hoffnungsloser, verrückter Romantiker.«
Die Theaterprobe in der Aula lief gut.
Tania saß mit dem Textbuch auf dem Schoß da und versuchte, sich ihre Zeilen einzuprägen, während sie ab und zu einen Blick zur Bühne riskierte, wo Mr s Wiseman Edric und einem anderen Jungen beibrachte, wie man ein Fechtduell simuliert.
»Wichtig ist, dass es echt aussieht«, sagte Mr s Wiseman und schwang Romeos Schwert. »Aber natürlich, ohne dass ihr dem anderen die Augen ausstecht! Okay, Evan, probier’s mal, und denk an das, was ich dir über Haltung und Balance gesagt habe.«
»Ich versuch’s«, sagte Edric und nahm das Schwert in die Hand.
Er probierte ein paar Positionen aus, stieß den Degen mit der Plastikspitze nach vorn und drehte das Handgelenk, sodass er mit der Klinge einen kreisförmigen Bogen beschrieb. Der Junge, der den Tybalt spielte, starrte entgeistert auf Edrics Klinge, die die Luft durchschnitt, während sein eigener Degen zu Boden fiel.
»Oh! Sehr gut, Evan!«, sagte Mr s Wiseman. »Hattest du schon mal Fechtunterricht?«
Edric lächelte entschuldigend. »Ist schon ein Weilchen her. Es waren auch nur ein paar Stunden.«
Tania schmunzelte. Ein paar? Edric hatte fast fünfhundert Jahre Training hinter sich. Das Fechten war im Elfenreich fester Bestandteil der Erziehung, bei Jungen wie bei Mädchen.
Edrics und Tanias Blicke trafen sich und er zwinkerte ihr zu.
Ungefähr eine Stunde später war die Probe zu Ende und alle machten sich zum Gehen fertig.
»Montagnachmittag proben wir das nächste Mal«, entschied Mr s Wiseman. »So könnt ihr das Wochenende nutzen, um euren Text zu lernen. Ich erwarte von allen, dass ihr den Text aus dem Effeff beherrscht, wenn ich euch das nächste Mal sehe.«
Tania und Edric hatten keine Sekunde für sich alleine, und nach einem kurzen, traurigen Abschied vor den anderen
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