Die verlorene Koenigin
Richtung, aus der der Pfiff gekommen war. Ein Taxifahrer lehnte sich halb aus dem Fenster seines Wagens und grinste Tania und ihren Begleiter im Vorüberfahren an.
Tania lachte. Das Aufsehen, das sie und Edric erregten, störte sie nich t – im Gegenteil, sie fand es sogar ziemlich witzig; und der Taxifahrer war nicht der Erste, der so begeistert auf ihre seltsame Kostümierung reagiert hatte. Auf ihrem Fußmarsch von Hampton Court im Südwesten Londons nach Camden im Norden der Stadt waren Tania und Edric bereits mehrfach neugierigen Blicken ausgesetzt gewesen.
Tania wunderte sich nicht über diese Reaktionen: Ihre reich verzierten Kleider hätten perfekt an den elisabethanischen Hof gepasst, aber im London des 21 . Jahrhunderts waren sie natürlich völlig fehl am Platz. Tania trug ein langärmeliges olivgrünes Samtkleid mit Reifrock sowie bestickten grasgrünen und rostroten Besätzen. Edrics Kleidung war ebenso altmodisch: ein dunkelgraues Wams mit geschlitzten Puffärmeln, unter denen feine, perlweiße Seide hervorschaute, und eine mit schwarzem Brokat gesäumte Kniehose.
Edric lächelte. »Der denkt wahrscheinlich, wir waren die ganze Nacht auf einer Kostümparty.«
»Ja, vermutlich«, stimmte Tania zu. »Eins ist jedenfalls sicher: Die Wahrheit errät er nie.« Sie hielt inne und blickte in Edrics große kastanienbraune Augen. In seine dunkelblonden Haare fuhr der Wind, sodass ihm einzelne Strähnen ins Gesicht wehten. Es war das lächelnde Gesicht des Jungen, den sie liebte. Er war siebzehn und hieß Evan Thomas, war aber eigentlich jemand ganz ander s – genau wie sie selbst nicht das Mädchen war, für das sie sich immer gehalten hatte.
Noch bis vor drei Tagen war sie Anita Palmer gewesen, ein ganz normales Mädchen kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Da hatte sie noch nichts von der Zauberwelt der Elfen gewusst. Sie schmunzelt e – damals hatte sie nur halb gelebt.
Noch vor drei Tagen war sie in einen Jungen namens Evan verliebt gewesen, aber jetzt kannte sie seine wahre Identität: Er war Edric Chanticleer, ein junger Höfling im Palast des Elfenreichs.
Das laute Klappern von Absätzen auf dem Bürgersteig riss Tania aus den Gedanken. Eine Frau kam ihnen entgegen und starrte sie mit amüsiert-neugierigem Blick an.
»Hallo«, sagte Edric. »Wir kommen gerade aus dem Immerwährenden Elfenreich.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf Tania. »Sie ist eine Prinzessin.«
»Ach ja?«, sagte die Frau, während sie an den beiden vorbeiging. »Wie schön für sie. Also, ihr bringt auf jeden Fall Farbe in die Gegend.«
»Vielen Dank«, rief Tania der Frau hinterher, als diese um die nächste Ecke bog.
Edric grinste. »Na, siehst du? Die Leute können sehr wohl die Wahrheit vertragen.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Ja, solange sie glauben, dass es nur Spaß ist«, sagte sie. »Bei meinen Eltern wird das aber nicht klappen.«
Edric wurde ernst. »Nein«, antwortete er. »Das ist mir auch klar.«
Tania blickte an sich herunter. »So kann ich zu Hause jedenfalls nicht aufkreuzen«, sagte sie. »Es ist schon schwierig genug, alles zu erklären, auch ohne diese Kleider.« Sie war drei Tage nicht in der Welt der Sterblichen gewesen, seit sie und Edric nach dem Bootsunglück aus dem Krankenhaus verschwunden ware n – drei Tage und Nächte, in denen ihre Eltern bestimmt schon das Schlimmste befürchtet hatten. Tania musste so schnell wie möglich heim, damit sie wussten, dass es ihr gut gin g – aber nicht in ihren Elfengewändern.
Edric blickte rechts und links die Straße hinunter. »Die Geschäfte sind noch nicht geöffnet«, sagte er. »Es ist bestimmt erst kurz nach sieben. Aber selbst wenn die Läden offen wären, hätten wir überhaupt kein Geld, um uns Kleidung zu kaufen.«
Tania dachte stirnrunzelnd nach. »Nicht weit von hier gibt es einen Laden von der Kleidersammlung.«
»Der ist aber sicher auch noch nicht offen.«
»Macht nichts.« Sie nahm Edrics Hand. »Komm, ich weiß, wo wir vielleicht was zum Anziehen finden können.«
St Crispin’s Hospice Shop, Camden
Im Schaufenster des Ladens lag ein kunterbuntes Sammelsurium von Büchern und Schallplatten bis hin zu Puppen, Spielsachen und Nippes. Innendrin erspähte Tania Kleiderregale und ein Fach, das nichts außer zusammengefalteten Häkeldecken zu enthalten schien.
»Wie ich gesagt habe«, bemerkte Edric, der durch das Schaufensterglas spähte. »Geschlossen.«
»Macht nichts«, sagte Tania. »Komm mit.« Sie führte ihn an der
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