Die Verlorenen
Andere zu ignorieren. Doch es gelang ihm kaum. Weil ihm die Veränderungen auf Schritt und Tritt begegneten, bei allem, was er tat.
Andere Sklaven, zu denen er vor dieser Nacht ein freundschaftliches Verhältnis gehabt hatte, schienen plötzlich ihre Stimme verloren zu haben. Sie sprachen nicht mehr, schienen nicht einmal mehr wirklich zu leben, sondern nur noch zu funktionieren.
Die Herren der Plantage ließen sich kaum noch sehen, verschanzten sich im Haus. Auch Rudge Vandermeere gab seine Anordnungen fast nur noch aus dem Dämmer seiner kleinen Residenz am Rande der Sklavensiedlung heraus. Und auch Bestrafungen führte er nur noch dort durch.
Doch nicht alle, die Vandermeere zu sich rief, wurden bestraft. Oft wartete Agamemnon vergebens auf die Schreie, die die neun-schwänzige Peitsche noch jedem ihrer Opfer von den Lippen riß. Und manche derer, die Vandermeeres Haus betraten, kamen nicht wieder heraus. Andere wiederum kehrten zwar zurück, doch sie schienen nicht mehr dieselben zu sein .
Agamemnon wollte die Augen vor der neuen Wirklichkeit verschließen. Aber er schaffte es kaum noch des Nachts.
Ein Geräusch lotste ihn aus dem schwebenden Dämmerzustand, zu dem der Schlaf für ihn geworden war. Ein leises Rascheln von Stoff, dann behutsam gesetzte Schritte.
Vorsichtig tastete Agamemnon zur Seite. Die Matratze dort war noch warm, aber leer. Nur Semiramis' Duft hing noch darin. Das Mädchen selbst war zwischenzeitlich schon an der Tür angelangt und schlüpfte hinaus.
Agamemnon verkniff sich den Ruf nach ihr gerade noch. Vielleicht hätte sie ihn nicht einmal gehört.
Schon in der vorigen Nacht hatte Semiramis sich davongestohlen, doch Agamemnon war erst bei ihrer Rückkehr darauf aufmerksam geworden. Sie hätte nicht schlafen können und sei spazieren gewesen, hatte sie auf seine Frage geantwortet. Mehr war ihr nicht zu entlocken gewesen. So wie sie - und alle anderen auf Resolute übrigens auch - über jene Nacht des Überfalls schwiegen. Es sei nichts geschehen, sagte sie, und schlug damit den allgemein gültigen Tenor an.
Agamemnon wartete noch drei Atemzüge ab, dann stand er ebenfalls auf, stieg in Hose und Hemd und verließ die Hütte. Im Mondlicht entdeckte er Semiramis' Schemen. Wie schwebend lief sie in Richtung des Herrenhauses.
Was hatte sie nun wieder vor?
Das Mädchen hatte sich verändert. Agamemnon wollte es den Mißhandlungen durch die La Fore-Brüder und Vandermeere zuschreiben, doch er hegte die unbestimmbare Ahnung, daß dies nicht der alleinige Grund dafür war.
Vielleicht würde diese Nacht ihm eine Antwort geben.
Agamemnon folgte dem Mädchen. Als Semiramis den Hof vor dem Haus überquerte, wartete er im Schutz der Sträucher ab, was geschehen würde - und zuckte zusammen, als es ihm bewußt wurde.
Semiramis hielt geradewegs auf das Portal zu und betrat das Haus, ohne sich vorher bemerkbar zu machen oder auch nur zu zögern.
Sekundenlang überlegte Agamemnon, was er tun sollte. Obwohl er tief in sich längst wußte, daß es nur eine Möglichkeit gab, die er nutzen konnte. Denn umkehren und so tun, als wäre nichts geschehen, das würde er ohnehin nicht fertigbringen.
Also schlich auch Agamemnon hinüber zum Haus, um den Hof herum allerdings, immer in Deckung der Büsche ringsum bleibend, damit er nicht zufällig von einem der Fenster aus gesehen wurde. Drüben angekommen, huschte er von Säule zu Säule, immer wieder wartend und lauschend, ob ihn nicht doch jemand bemerkt hatte.
Aber nichts rührte sich. Auch nicht, als er am Portal anlangte. Er legte das Ohr gegen das dicke Holz. Auch dahinter blieb alles still.
Vorsichtig drückte Agamemnon die Tür auf. Stille.
Er schlüpfte durch den Spalt, schloß die Tür, wartete wieder. Seine Blicke tasteten durch die Halle, die vor kaltem Prunk schier starrte. Man sah auf den ersten Blick, daß hier nicht die Hand einer Frau gewirkt hatte, sondern nur die eines Mannes, dem der Sinn danach stand, seinen Reichtum und seine Macht in jedem noch so kleinen Detail seines Lebensraumes zu präsentieren.
Agamemnon zuckte zusammen, als hätte ein Unsichtbarer ihn mit einer glühenden Nadel gestochen. Gerade noch schaffte er es, den Laut, der ihm schon auf der Zunge lag, hinunterzuschlucken.
Ein Lachen war aufgeklungen. Hell, perlend - und voller Lust .
»Semi«, entfuhr es dem Schwarzen. Er hatte die Stimme des Mädchens unzweifelhaft erkannt. Dieses Lachen, das sie ihm in ihren gemeinsamen Nächten so oft geschenkt hatte, bis zu
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