Die Verlorenen
kaum einen Steinwurf von New Orleans entfernt«, preßte Gerome hervor. Ein dunkler Schatten aus Unmut und Zorn, dessen Kühle selbst Gilles zu spüren schien, legte sich über sein Gesicht.
»Ich traue ihm zu, daß er mit seiner Horde auch in diese Stadt einfallen wird«, unkte Gilles.
»Das soll er wagen«, erwiderte Gerome, »dann pfeife ich auf den Kodex und werde dafür sorgen, daß er sein geschenktes Leben verflucht, ehe ich es ihm stückchenweise aus dem Leib reiße!«
»Das wird vielleicht nicht nötig sein«, sagte der andere. »Den Kodex unbedacht zu brechen, meine ich.«
Geromes Kopf flog förmlich herum, sein schulterlanges, weißblondes Lockenhaar wehte in der abrupten Bewegung wie ein Schleier. Sein funkelnder Blick schien das Dämmer für die Dauer eines trägen Herzschlages zu erhellen, ehe eine stumme Frage in seinen Augen auftauchte.
Gilles verstand sie dennoch.
»Ein Schiff aus Frankreich ist im Hafen vor Anker gegangen.«
»Die >Lioncourt« fragte Gerome erregt.
Der dunkelhaarige Vampir nickte.
»Ist er an Bord gewesen?« wollte sein Blutvater wissen.
»Wir sollten nachsehen«, meinte Gilles lächelnd. »Die Passagiere sind noch nicht von Bord gegangen.«
»Dann laß uns keine Zeit verlieren.«
Gerome fuhr herum und eilte der Treppe zu und die Stufen hinab. Unten bahnte er sich rücksichtslos seinen Weg durch das Gedränge, während Gilles in seinem Heckwasser nachfolgte. Die Kutsche, mit der er hergekommen war, stand noch draußen. Sie stiegen ein.
»Zurück zum Hafen!« rief Gilles dem bleichen Kutscher zu.
Die Pferde trabten an, die Räder knirschten und rumpelten über das feuchte Kopfsteinpflaster. Nur langsam kam die Kutsche voran; zu viele Menschen drängten sich selbst in dieser ungemütlichen Nacht in den Straßen und Gassen des French Quarters.
»Schneller!« befahl Gerome, und der Kutscher ließ die Peitsche knallen. Flüche und Verwünschungen säumten ihren weiteren Weg zum Hafen, und hätte die Zeit nicht so gedrängt, wäre Gerome sicher ausgestiegen, um die ehrfurchtslosen Kerle und Weiber da draußen Mores zu lehren. So aber nahm er die Stimmen derer, die sich mit waghalsigen Sprüngen vor der dahindonnernden Kutsche in Sicherheit bringen mußten, nicht einmal wirklich zur Kenntnis. Seine Gedanken eilten ihm noch voraus, in der Hoffnung, den zu erreichen, dem sie allein galten.
Das Gedränge am Kai war groß und so dicht, daß der Kutscher die Pferde nicht weitertreiben konnte. Weil es kaum Platz gab, wohin die im Wege stehenden Menschen - Zivilisten wie Soldaten - hätten ausweichen können. Die Ankunft eines Schiffes lockte in dieser Kriegszeit die Leute an - zum einen, weil die Neugierde sie leitete, zum anderen, weil die Chance bestand, daß es irgend etwas zu holen gab.
Die Reling der dreimastigen »Lioncourt« lag mit der Kaimauer fast auf einer Höhe, und als die beiden Vampire sich ihr durch die Menschenmenge so weit genähert hatten, daß sie darüber hinwegschauen konnten, schoben Matrosen breite Bohlen über die Bordwand zum Kai herüber.
Wenig später verließen die ersten Passagiere das Schiff, während Seeleute damit begannen, Fracht und Gepäck von Bord zu laden.
»Siehst du ihn?« fragte Gerome, dessen Blick zwischen den Passagierströmen hin und herging.
»Ich kann mich kaum an ihn erinnern«, erwiderte Gilles. »Ich war noch ein Kind, damals .« Er lächelte wehmütig.
»Ach ja«, erinnerte sich Gerome, »du warst der letzte Sohn, der .«
Er hielt inne. Nur noch vereinzelt verließen jetzt Menschen die »Lioncourt«. Und schließlich der letzte.
»Das ist er«, stieß Gerome hervor.
Er schob sich ungestüm vor. Gilles folgte ihm langsamer.
Der Mann, dem sie sich näherten, stand einem gestaltgewordenen Schatten gleich am Fuß der Gangway - wenngleich er selbst keinen solchen warf. Gilles konnte den stechenden Blick der nachtfarbenen Augen selbst über die immer noch einige Schritte betragende Entfernung hinweg spüren. Und im Zwielicht, in dem das Gesicht des anderen auf seltsame Weise selbst für vampirische Sicht verschwamm, schien etwas dunkel zu glühen - in der Form des verhaßten Zeichens .
Gerome langte bei dem Mann an, blieb vor ihm stehen und sagte:
»Willkommen in New Orleans, Landru.«
*
Gerome schloß die gepolsterte Tür zu seinem Gemach. Der Lärm, der aus der Taverne im Erdgeschoß emporquoll, wurde zu einem dumpfen, an- und abschwellenden Raunen. Die Wände, die den Raum von den Nebenzimmern trennten, waren so dick,
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