Die verratene Nacht
nachdenklich. „Das hätte ich tun können“, entgegnete sie und nickte, als wäre da ein großes Geheimnis aus ihren Augen abzulesen. „Aber man hat mir gesagt, wie ich dich retten kann, also habe ich es getan.“
„Man hat dir gesagt, wie du mich retten kannst? Darf ich fragen wer? Und wie?“
Selena erhob sich und griff auch zur Tasse, der Löffel schepperte wieder. „Du kannst fragen, aber ich denke, das behalte ich erst einmal für mich. Ich werde dir noch etwas Suppe besorgen und wenn du richtig nett bist, erzähle ich dir, wie es kam, dass man mir den Namen eines weiblichen Zauberers gab.“
Und damit drehte sie sich um und verließ den Raum, bevor er eine Chance bekam, sie sich einmal genauer anzusehen.
Nichts überraschte ihn mehr, als die vage Enttäuschung darüber, dass ihm das verwehrt blieb.
Bin wohl noch nicht ganz hinüber .
~*~
Selena löffelte mit einem Schopflöffel die Brühe, die man aus Paprika, Karotten und Zwiebeln gemacht hatte, zuerst angeröstet und dann sanft in Wein geköchelt, der mit Sellerie, Petersilie und Knoblauch gewürzt war. Sie roch köstlich und ließ ihr das Wasser im Mund zusammen laufen. Und Theo hatte die Suppe ganz gewiss genossen, wenn man in Betracht zog, wie er sie runtergeschlürft hatte.
Weniger gefallen hatte ihm wohl, dass man ihn wieder zum Leben erweckt hatte.
Kein bisschen Dankbarkeit dafür.
Er hatte es nicht deutlich gesagt oder in Worten ausgesprochen, aber sie spürte es. Da war ein gewisser Widerwille, in diese Welt zurückzukehren, auf dieser Ebene zu bleiben.
Es gab einige, die gegen den Tod ankämpften, und einige, die einfach hinüberglitten – es hing davon ab, ob sie hier noch etwas zu erledigen hatten oder nicht. Aber der hier ... dieser Drachenmann ... er hatte weder das eine noch das andere getan. Er schien einfach bereit. Müde.
Warum hast du mir gesagt, ich soll ihn retten? Sie sah sich um, ganz automatisch nach oben zur Decke hin, auch wenn die Begleiter normalerweise auf Augenhöhe saßen oder standen. Als würde es darauf eine Antwort geben. Seit vierzig Jahren schon fragte sie nach dem Warum und noch nie hatte sie eine klare Antwort erhalten.
Aber gelegentlich erschien der Begleiter, den sie mittlerweile als ihren persönlichen Schutzengel betrachtete. Gab natürlich keine Antworten auf das Warum ... nur Hinweise. Genau wie sie es getan hatte, als Selena zum ersten Mal die Erfahrung der Todeswolke gemacht hatte – oder zumindest das erste Mal, dass sie sich daran erinnerte.
Sie war fünf Jahre alt und saß neben einer alten Frau draußen auf einer Wiese und machte eine Halskette aus Gänseblümchen, während Vonnie mit der Tochter der alten Frau Himbeeren pflückte. Die alte Frau schein so trocken und verdorrt wie ein alter Stock, den ein Luftzug jeden Moment wegblasen könnte, und schrumpelte ganz einfach in friedlicher Stille in sich zusammen. Ihre Augen waren wässrig, leuchteten aber, und sie sprach wenig, meistens gar nichts. Ihre Haare waren weiß, mit einem bisschen Grau darin.
Selena erinnerte sich daran, weiter gebabbelt zu haben, immer weiter zu der alten Frau, als die Frau mit den blonden Haaren, die oft vorbeikam, um ihr und Vonnie zu helfen, erschien. Plötzlich da auf dem Gras saß. Zu der Zeit dachte sie wenig über die Tatsache nach, dass die geheimnisvolle Wayren oft aus dem Nichts auftauchte, wie ein Luftzug; es war einfach die Art, wie sie auftauchte und wieder verschwand. Wie Selena in der Zeit danach erfahren hatte, waren Kinder oft viel empfänglicher dafür, die Gegenwart von Begleitern und Engeln zu akzeptieren, als ihre älteren Mitmenschen es waren.
„Schau“, hatte Wayren zu ihr gesagt, ihr blondes Haar schimmerte in der Sonne. Es schien sie immer ein glückliches Schimmern zu umgeben, aber an dem Tag schien es größer und größer zu werden ... und schließlich umfing es die gebrechliche alte Frau.
Im Sonnenlicht sah Selena das Glitzern, die kleinen Funken um die Frau herum. Silbern und grau, und dann bläulich, die kreisten, durcheinander wirbelten, in einer Spirale nach oben tanzten.
„Das ist hübsch“, sagte sie.
Wayren nickte. „Niemand außer dir kann es sehen. Es ist eine Gabe. Aber auch mehr als das. Es ist eine Verantwortung. Nun. Nimm ihre Hand, denn sie wird deine Hilfe brauchen. Sie ist gerade dabei, von uns zu gehen.“
Selena begriff nicht, wie die Frau weggehen würde, wenn sie ihre Hand hielt, aber sie tat, was ihr Begleiter ihr sagte. Während sie die
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