Die verratene Nacht
Schatten und Umrisse von zerstörten Gebäuden.
Und dann erkannte er ein Funkeln von Orange. Weit draußen.
Instinktiv schaute er runter auf das Gelände unten, hinter den schützenden Mauern. Und er erblickte einen Schatten, der sich rasch und zielstrebig vom Haus entfernte. In Richtung Tor.
Es war unmöglich Selena nicht zu erkennen – oder ihre Absichten.
Sie hatte gelogen .
~*~
Selena näherte sich gerade der kleinen Seitentür, die aus den schützenden Mauern herausführte, als sie ein Schlurfen von Füßen auf Stein hinter sich hörte. Ein langer Schatten fiel über das sacht wogende Gras, vermischte sich mit ihrem eigenen, beide im Mondlicht umrahmt von oben. Sie drehte sich um und hoffte, es wäre Frank, wusste aber, dass er es nicht war.
„Du hast gesagt, du gehst heute Nacht nicht raus.“
„Theo“, erwiderte Selena, die gerade mühsam ihre Gedanken wieder sortierte. „Was tust du hier?“ Eine blöde Frage, wie eine dämliche Dialogzeile von einer DVD, aber sie kam gerade auf nichts anderes, was sie sagen könnte. Vielleicht war das der Grund warum man solche Sätze überhaupt erst von sich gab.
Als er sich langsam näherte und das Licht noch mehr von seinem Gesicht einfing, biss sie sich auf die Lippen. Er war nicht glücklich.
„Du hast gesagt, du gehst heute Nacht nicht raus“, sagte er noch einmal. Seine Stimme war leise und hart.
Sie schluckte und begann zuzulassen, dass ihre eigene Wut an die Stelle ihrer Nervosität und Befürchtungen trat. „Ich habe meine Meinung geändert. Ich bin erwachsen. Das darf ich.“
Er kam noch näher, ein Arm kam nach vorne und hinderte sie daran, weiterzugehen, als er seine Hand an das Holz der Tür legte. Das machte sie noch wütender, stinkwütend, und sie fragte mit scharfer Stimme, „was glaubst du denn, was du da tust?“ Sie hätte sich drunter durchbücken oder drum herum gehen können, aber – verdammt noch mal – die Genugtuung würde sie ihm nicht geben.
„Du kannst da nicht rausgehen“, sagte er. „Selena“
„Ich muss.“
„Du musst gar nichts.“ Dann veränderte sich seine Stimme, als er weiterredete, klang sie ein wenig niedergeschlagen. „Ganz besonders nicht alleine..“ Er stand aufrecht da, sein Arm sank herab. „Erinnerst du dich noch, was beim letzten Mal passiert ist?“
Sie schnaubte. „Wie könnte ich das vergessen? Es ist Teil des Risikos, das ich eingehe. Und bis jetzt bin ich mit nur ein paar Kratzern und Schrammen davongekommen.“
„Das hier“,–er streckte die Hand aus und schob den Saum ihres Hemds oben am Hals beiseite–, „würde ich kaum ein paar Schrammen nennen.“
Seine Finger streiften sanft an ihrer Haut entlang und ihr wurde bewusst, wie nah er gekommen war. Nahe genug, so dass sie seine Wärme in der kalten Nachtluft spürte. Und dass sein nackter Fuß ihren Schuh berührte. Und dass er kein T-Shirt trug. Dass seine Haut und seine Haare sauber und ein wenig feucht rochen.
Selena schluckte. Sie schaute zu ihm hoch und fand seinen Blick unverwandt auf sie gerichtet, stark und sicher.
Ruuuu-uuuthhh, Arrrleeyyyyyyy-aaaaaaneee.
Das schreckliche, stöhnende Geräusch wehte durch die Nacht und sie wandte als Erste den Blick ab, drehte sich weg und schaute zur hohen Mauer hin, als könnte sie da hindurch sehen.
Sie wollte da nicht rausgehen. Aber sie zerrten an ihr. Sie riefen nach ihr. Der Kristall um ihren Hals fühlte sich schwer und heiß an. Wenn sie sie nicht rettete, wer würde es dann tun?
Gib mir einen Grund zu bleiben.
„Nicht heute Nacht“, murmelte er und seine Hand kam vor, um eine Haarlocke wegzuwischen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte.
Das Herz schlug ihr so heftig, sie dachte, dass es ihr durch jedes einzelne ihrer Körperglieder dröhnen müsste. Ihr Magen war in Aufruhr, vor Unentschlossenheit, vor der Frage: Zwang gegen Begehren, gegen Angst ... gegen Schuldgefühle. Sie warf es alles von sich, konzentrierte sich auf die Worte, die Wayren ihr vor langer Zeit gesagt hatte: Es ist eine Gabe und eine Verantwortung . Und streckte mit schwerer Hand den Arm nach dem Riegel an der Tür aus.
„Nein“, sagte Theo, indem er ihre Hand ergriff und sie an sich zog. Er war nicht grob, ja nicht einmal schnell; es war fast, als ob es in Zeitlupe wäre und plötzlich fand sie sich an dieser nackten, warmen Brust wieder. „Nicht heute Nacht. Bleibe heute Nacht bei mir.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, beugte er sich herab, um sie zu küssen, und sie hob den Mund
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