Die verschollene Flotte 04 - Gearys Ehre
»Ich weiß nicht, was mit den meisten von ihnen geschehen ist, aber bei einigen von ihnen weiß ich es.«
Geary zögerte, ihr die offensichtliche Frage zu stellen. Kurz nachdem er das Kommando über die Flotte übernommen hatte, war ihm zu seinem Entsetzen bewusst geworden, dass Kriegsgefangene gelegentlich wahllos erschossen wurden -
ein Auswuchs von einhundertjahren Krieg, in dem eine Grausamkeit die andere überboten hatte. Er hatte Desjani nicht danach gefragt, ob sie daran ebenfalls beteiligt gewesen war.
Dann schlug sie die Augen auf und sah ihn an. »Ich habe es mitangesehen. Ich habe nie den Abzug betätigt, ich habe auch nie den Befehl gegeben, aber ich habe zugesehen und nichts dagegen unternommen.«
Er nickte, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Man hatte Ihnen eingeredet, dass das ein annehmbares Verhalten war.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Ihre Vorfahren …«
»… haben mir gesagt, dass es verkehrt ist«, unterbrach Desjani ihn, was sie bei Geary nur selten machte. »Ich wusste es, ich habe es gespürt, aber ich habe nicht auf sie gehört. Ich übernehme die volle Verantwortung für mein Handeln. Ich weiß, ich werde irgendwann dafür bezahlen müssen. Vielleicht haben wir deswegen im Heimatsystem der Syndiks so viele Schiffe verloren. Vielleicht dauert der Krieg deswegen schon so viele Jahre. Wir werden dafür bestraft, dass wir aufgehört haben, das Richtige zu tun, weil wir glaubten, das Falsche tun zu müssen.«
Er wollte sie nicht verdammen, wenn sie schon die ganze Schuld auf sich lud. Aber er konnte zu ihr stehen. »Ja, vielleicht werden wir bestraft.«
Desjani stutzte. »Sir? Warum sollte man Sie für Dinge bestrafen, die geschehen sind, als Sie gar nicht bei uns waren?«
»Ich bin aber jetzt bei Ihnen, nicht wahr? Ich bin Teil dieser Flotte und ich bin der Allianz loyal verbunden. Wenn Sie bestraft werden, dann werde ich auch bestraft. Ich habe nicht so wie Sie den jahrelangen Krieg erleiden müssen, aber mir wurde alles genommen, was ich hatte und kannte.«
Sie schüttelte den Kopf und machte eine noch ernstere Miene. »Sie sagten gerade, das ist Ihre Flotte, und Sie sind der Allianz loyal verbunden. Diese Dinge wurden Ihnen nicht genommen.«
Erstaunt musste Geary erkennen, dass er das so noch nicht gesehen hatte.
Desjani schaute ihn eindringlich an. »Sie wurden uns geschickt, als wir Sie brauchten. Wir haben eine zweite Chance bekommen, und Sie haben ebenfalls eine zweite Chance bekommen. Anstatt Sie bei der Schlacht von Grendel oder danach sterben zu lassen, hat man Sie in der Rettungskapsel überleben lassen. Uns wird Gnade gewährt, wenn wir uns als würdig erweisen.«
Erneut verblüffte sie ihn, indem sie einen Standpunkt aussprach, der ihm selbst nie in den Sinn gekommen wäre: Er war kein losgelöster Held aus den Mythen, sondern einer der ihren.
»Vielleicht haben Sie ja recht«, entgegnete Geary. »Wir können diesen Krieg nicht durch die Zerstörung der Gegenseite gewinnen, es sei denn, wir lassen alle Hypernet-Portale hochgehen und begehen als Spezies Selbstmord. Wenn dieser Krieg ein Ende nehmen soll, dann müssen wir sie nicht nur auf dem Schlachtfeld besiegen, sondern auch bereit sein, den Syndiks zu vergeben, wenn sie echte Reue zeigen. Vielleicht hat man uns ein Beispiel vorgegeben, dem wir folgen sollen.«
Eine Zeit lang standen sie beide schweigend da und sahen zu, wie sich die inneren Hangartüren schlossen, damit die äußeren geöffnet werden konnten. Der Vogel hob ab und brachte seine Passagiere zu der Syndik-Einrichtung. Schließ-
lich schaute Desjani ihn wieder an. »Ich habe lange Zeit damit verbracht, die Syndiks bestrafen zu wollen. Ich wollte ihnen so wehtun, wie sie uns wehgetan haben.«
»Ich kann verstehen, warum Sie das wollten«, sagte Geary.
»Danke, dass Sie mich diesen Zivilisten haben helfen lassen.
Ich weiß, das hat gegen vieles verstoßen, woran Sie glauben.«
»Woran ich geglaubt habe«, korrigierte sie ihn. Wieder schwieg sie, aber Geary wartete geduldig ab, da er spüren konnte, dass sie noch etwas sagen wollte. »Aber dieser Teufelskreis der Vergeltung kennt kein Ende. Mir ist etwas bewusst geworden. Ich möchte nicht eines Tages diesen Jungen töten müssen, wenn er alt genug ist zum Kämpfen.«
»Ich auch nicht. Und auch nicht seinen Vater oder seine Mutter. Und ich will auch nicht, dass der Junge eines Tages Bürger der Allianz tötet. Wie können wir dem ein Ende setzen, Tanya?«
»Sie werden schon eine Lösung
Weitere Kostenlose Bücher