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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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der Sommer in Rom gestern gewesen. Zwar hatten die Jahre den Körper geschwächt und ihre Spuren in beider Gesicht hinterlassen, aber in ihren Herzen lebten nach wie vor die Leidenschaft, die Hoffnung, der Kampfeswille, die Opferbereitschaft, die Fähigkeit, zu lieben und Schmerzen zu ertragen.
    Sie schloss die Augen. »Mario, die Polizei beabsichtigt, Isaak Karansky oder einen anderen Juden wegen des Mordes an James Sissons festzunehmen. Ich werde das nicht zulassen. Sag bitte nicht, dass es dem Wohl des Volksganzen dient, einen zu opfern, damit es allen besser geht. Wer zulässt, dass ein Unschuldiger gehängt wird und seine Frau in Trauer um seinen Verlust allein zurückbleibt, macht die Gerechtigkeit zum Gespött. Was kann, wer auf diese Weise schuldig geworden ist, der neuen Ordnung bieten, die wir erschaffen wollen? Wenn wir unsere Waffen einsetzen, um verwerfliche Ziele zu erreichen, büßen wir die Kraft ein, Gutes zu bewirken. In dem Fall haben wir uns auf die Seite des Feindes geschlagen. Ich dachte, das sei dir bekannt.«
    Er sah sie schweigend mit umschatteten Augen an.
    Während sie auf seine Antwort wartete, steigerte sich der Schmerz in ihr ins Unerträgliche.
    Er holte tief Luft. »Das ist es auch, meine Liebe. Vielleicht habe ich eine Zeit lang vergessen, wo genau der Feind steht.« Er senkte den Blick. »Sissons wollte sich um der Sache willen das Leben nehmen, das Ziel hieß mehr Freiheit. Von Anfang an war ihm bewusst, dass er das dem Kronprinzen geliehene Geld nicht wiedersehen würde. Er wollte ihn als den zügellosen
Schmarotzer entlarven, der er ist. Ihm war klar, dass das viele Männer den Arbeitsplatz kosten würde, aber er war bereit, mit seinem Leben zu zahlen.« Erneut hob er den Blick zu ihr und sagte eindringlich und mit leuchtenden Augen: »Im letzten Augenblick hat ihn dann seine Entschlusskraft verlassen. Er war nicht der Held, als der er sich gesehen hatte. Und, nun … ich habe ihn tatsächlich getötet. Es geschah rasch und sauber, ohne Schmerzen und ohne Angst. Er hat nur einen flüchtigen Augenblick lang gewusst, was ich tun würde, dann war es vorbei. Ich habe den von ihm selbst verfassten Abschiedsbrief liegen lassen, in dem er erklärt hat, dass es sich um Selbstmord handelte, und auch den Schuldschein des Prinzen. Beides muss die Polizei unterschlagen haben. Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Wir hatten unseren eigenen Mann dort, der für eine Bestätigung des Selbstmordes und dafür sorgen sollte, dass kein Unschuldiger in Gefahr geriet.« Verwirrung lag auf seinen Zügen. Furcht und Schuldbewusstsein schienen ihn zu bedrücken.
    Ohne ihn anzusehen, sagte Vespasia: »Das hat er auch versucht, aber er ist zu spät gekommen. Ein anderer hat Sissons gefunden und den Abschiedsbrief vernichtet, weil ihm klar war, welche Unruhen ausbrechen würden. Es hätte ohnehin kein Selbstmord sein können, denn Sissons konnte Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand nicht benutzen. Das wussten die Nachtwächter, die an Ort und Stelle waren.« Sie sah ihn erneut an. »Den Schuldschein habe ich gesehen – er ist nicht vom Prinzen geschrieben, sondern eine gekonnte Fälschung, die für den Zweck hergestellt wurde, für den du sie verwenden wolltest.«
    Er setzte zum Sprechen an, sagte aber nichts. Ganz langsam trat Verstehen auf sein Gesicht, dann der Ausdruck von Bekümmernis und schließlich Zorn. Er brauchte ihr nicht zu erklären, dass man ihn hintergangen hatte, sie hatte es an seinen Augen und seinem Mund erkannt, und Schmerz erfüllte sie.
    Es kostete sie große Mühe, nicht nachzugeben. Doch wenn sie jetzt einlenkte und sagte, es sei nicht so wichtig, er und sie könnten die Sache auf sich beruhen lassen, würde sie ihn verlieren – und, was noch schwerer wog, vor allem sich selbst.
    Sie schloss und öffnete die schmerzenden Augen.
    »Ich muss etwas wieder gutmachen«, flüsterte er. »Lebewohl, Vespasia. Ich gehe, aber ich werde dich in meinem Herzen tragen, wohin auch immer mich mein Weg führt.« Er hob ihre Hand an die Lippen. Dann wandte er sich um und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen – mochte sie hinausgehen, wenn sie so weit war, die Kraft aufbrachte, zu ihrem Lakaien, der Kutsche und in die Welt zurückzukehren.
     
    Gracie ging die Geschichte des Prinzen Eddy und Annie Crooks nicht aus dem Kopf. Sie stellte sich Annie vor, eine ganz normale junge Frau, die in nicht viel besseren Verhältnissen lebte als viele, denen Gracie während ihrer

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