Die Verschwoerung von Whitechapel
geht ihm gut.« Sie sah die Erleichterung auf Charlottes Zügen. »Ich habe den Eindruck, dass man sich in Spitalfields gut um ihn kümmert. Seine Kleidung wirkte sauber und ordentlich«, fügte sie mit einem kurzen Lächeln hinzu. »Danke, dass du gekommen bist, meine Liebe. Ich werde gründlich über alles nachdenken, was du gesagt hast. Zumindest ist mittlerweile manches klarer. Sofern Charles Voisey an der Spitze des Inneren Kreises steht und John Adinett sein Stellvertreter war, verstehen wir jetzt wenigstens die Hintergründe des Mordes an Martin Fetters und wissen, dass Thomas Recht hatte. Ich werde sehen, was ich tun kann, um Mrs. Fetters zu helfen.«
Charlotte gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging.
Jetzt musste Vespasia handeln. Sie wusste genug, um zu rekonstruieren, was geschehen war. Die Geldschuld des Kronprinzen war fiktiv, das hatte sie an dem Schuldschein erkannt, den Pitt mitgebracht hatte. Er war eindeutig gefälscht – zwar glänzend, würde aber vor einem Gericht nicht bestehen können. Sein Zweck bestand darin, die Verängstigten, Hungernden und Mittellosen von Spitalfields davon zu überzeugen, dass die Ursache für den Verlust ihres Arbeitsplatzes die Verschwendungssucht des Thronfolgers gewesen sei. War der Aufstand einmal losgebrochen, kam es auf Wahrheit oder Lüge ohnehin nicht mehr an, zumal Lyndon Remus seine Geschichte über den Herzog von Clarence und die Morde in Whitechapel veröffentlichen würde. Ob der Wahrheit entsprach, was darin stand, oder nicht – sie würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass aus dem Aufruhr eine Revolution wurde. Der Innere Kreis würde all das so lange steuern, bis es für seine Mitglieder Zeit war, an die Öffentlichkeit zu treten und die Macht zu übernehmen.
Vespasia fiel der Opernbesuch mit Mario Corena ein, bei dem sie Sissons als Langweiler bezeichnet hatte. Er hatte ihr mitgeteilt, sie irre sich in dem Mann. Wäre ihr da bekannt gewesen, was sie jetzt wusste – sie hätte seinen Mut zur Selbstaufopferung bewundert. Es war, als hätte Corena gewusst, dass Sissons sterben würde.
Dann musste sie an Pitts Beschreibung des Mannes denken, den er beim Verlassen der Zuckersiederei beobachtet hatte – ein älterer Mann von durchschnittlicher Größe, silbrige Strähnen im schwarzen Haar, dunkler Teint, ein fein geschnittenes Gesicht, ein Siegelring mit einem dunklen Stein darin. Die Polizei war der Ansicht gewesen, ein Jude habe die Tat begangen. Sie irrte sich: Ein Römer war es gewesen, ein leidenschaftlicher Verfechter der Republik, der in Sissons womöglich einen willigen Parteigänger gesehen hatte.
Damals, im Sommer vor fünfzig Jahren, als sie ihn in Rom kennen gelernt hatte, wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, einen Menschen zu töten. Aber seither war für beide ein ganzes Leben vorübergezogen. Menschen ändern sich. Enttäuschung und der Verlust von Illusionen setzen ihnen zu, und nur die Allerstärksten haben die Kraft, dem Widerstand zu leisten. Eine zu lange aufgeschobene Hoffnung kann in Verbitterung umschlagen.
Vespasia kleidete sich an. Sie entschied sich für ein exquisites Kleid aus silbergrauer Moiréseide. Dazu trug sie einen ihrer Lieblingshüte mit breiter Krempe, denn diese Art Hut hatte ihr schon immer gut gestanden. Anschließend ließ sie ihre Kutsche vorfahren und nannte dem Kutscher die Adresse Mario Corenas.
Mario empfing sie sichtlich erfreut. Er war überrascht, da sie sich erst für den kommenden Tag verabredet hatten.
»Vespasia!« Sein Blick erfasste ihr Gesicht, den sanften Schwung ihres Kleides. Als er den Hut sah, musste er lächeln. Auch wenn er sich, wie immer, nicht zu ihrer Erscheinung äußerte, ließ sich an seinen Augen ablesen, wie sehr sie ihm gefiel. Er sah sie aufmerksamer an, und mit einem Mal schwand die Freude aus seinen Zügen. »Was gibt es?«, fragte er
leise. »Sag bitte nicht, es sei nichts. Ich sehe, dass das Gegenteil der Fall ist.«
Es gab keinen Grund mehr, sich etwas vorzumachen. Zwar hätte sie sich in diesem schönen Raum, von dem aus der Blick auf den stillen Platz fiel, auf die im sommerlichen Laub prangenden Bäume, eine Grünfläche hier und da, gern der Zufriedenheit hingegeben, die sie in seiner Nähe stets empfand, doch über kurz oder lang würde das Ende kommen, und sie musste sich dem unausweichlichen Augenblick stellen.
Sie wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. Einen Moment schwankte sie. Er hatte sich nicht verändert. Es war, als wäre
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