Die versunkene Welt
Gesicht.
»Ihr habt eure Pflicht getan«, sagte sie übergangslos, bevor jemand ihr eine Frage stellen konnte. Mythor hielt Kalisse fest, die sich auf sie stürzen wollte. »Ihr habt die Bestie und ihre Brut getötet, so wie es euch aufgetragen war. Nun sollt ihr die Belohnung dafür empfangen. Die Meermutter selbst wird sie euch gewähren, wenn ihr ihr gegenübersteht!«
»Wo ist Sosona?« fuhr Gorma sie an. »Du weißt, wo unsere Hexe ist!«
Mythor aber fiel Learges’ eindringliche Warnung ein, sich unter gar keinen Umständen der Anemona oder der Meermutter vorführen zu lassen. Er schüttelte heftig den Kopf, trat auf Dorgele zu und setzte ihr das Gläserne Schwert an die Brust.
»Ich an deiner Stelle würde das nicht tun«, sagte die Priesterin unbeeindruckt. »Durch meinen Tod wäre nichts für euch gewonnen. Seht euch nur um!«
»Tritonen!« schrie Scida. »Es sind Dutzende! Sie hat uns verraten!«
Überall waren die bewaffneten Meeresbewohner. Sie kamen hinter Felsen hervor oder kletterten aus Erdspalten. Viel zu groß war diese Übermacht, als daß die Umzingelten, ohnehin vom Kampf geschwächt, ihr noch etwas entgegenzusetzen vermocht hätten.
Die Gesten der Tritonen ließen keinen Zweifel daran, daß sie die »Bestientöter« mit Gewalt in den Tempel treiben würden, gingen sie nicht freiwillig. Dorgele trat zur Seite und gab den Eingang frei.
Es gab keine Gegenwehr. Zu allem Überfluß rief Gorma:
»Dann sollen sie uns zu ihrer Göttin bringen! Und dort werden wir Zaem und Burra finden und befreien!«
Bevor Mythor ihnen eine Warnung zurufen konnte, traten Gorma und Gudun durch den Eingang in das Tempelinnere, das nun von dem gleichen magischen Licht erfüllt war, das über der ganzen Insel lag.
Mythor ließ das Schwert sinken und nickte den Gefährten zu. Im Augenblick waren ihnen die Hände gebunden. Wollten sie kein Blutbad heraufbeschwören, so mußten sie sich fügen – vorerst.
Ihre Schuldigkeit war getan. Die Tritonen hatten sie gebraucht, um ihre Tempel von der Bestienbrut zu säubern. Nun sollten sie ihren Lohn erhalten – und Mythor konnte sich nur zu gut vorstellen, worin dieser bestand.
An Dorgele vorbei betrat er den Tempel, noch von der Hoffnung erfüllt, daß sich die Gelegenheit bot, von diesem Ort zu fliehen, bevor man sie ins Reich der Anemona und der Meermutter brachte, zu dem es vom Tempel aus mit Sicherheit einen Zugang gab.
Er sah Gudun und Gorma bei Sosona stehen. Hinter Scida, Kalisse und Gerrek drangen Dorgele und die Tritonen ein. Schon glaubte der Sohn des Kometen, hier, in der Enge des Eingangs, einen Vorteil ihnen gegenüber zu haben. Schon wollte er Scida, Kalisse und Gerrek dies zurufen, als er, deutlicher als je zuvor, die Nähe der unheimlichen Macht spürte, die Ngore beherrschte.
Im nächsten Augenblick sanken die Gefährten ebenso wie Burras Amazonen und Sosona schreiend zu Boden. Eine grausame, befehlende Stimme war in ihrem Geist und tötete binnen weniger Herzschläge jeden Willen zum Widerstand ab.
Nur Sosona fand noch die Kraft zu schreien. In einem letzten Aufbäumen, von Entsetzen und Angst gerüttelt, stieß sie hervor:
»Die Schwarze Mutter lebt – Zaems schlimmste Feindin!«
Sie verstummte. Ihre Augen wurden ausdruckslos.
Einer nach dem anderen, erhoben sich die Gefangenen, und mit puppenhaften Schritten gingen sie auf die Geheimtür im Boden zu, die zwei Tritonen aufgerissen hatten.
Einer nach dem anderen, stiegen sie hinab in die Unterwelt des Nassen Grabes, sich ihrer Schritte nicht länger bewußt – ins Reich der furchtbaren Göttin.
Nur Tallis blieb auf Ngore zurück – die Amazone, die im Kampf gegen Yacub gestorben war.
Vielleicht war ihr dadurch ein grausameres Schicksal erspart geblieben.
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