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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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In der Orontesebene, auf der Straße zwischen den Dörfern, auf den Karrenwegen und Saumpfaden ringsum schlichen Züge von Ochsenkarren dahin. In den Dörfern selbst sah man größere Menschenhaufen mit Fez und Turban in eiligem Hin und Her. Gabriel tastete jedes Fleckchen mit dem Glas ab, doch er bemerkte nicht einen einzigen Soldaten und nur einige wenige Saptiehs. Dagegen bemerkte er, daß diesmal nicht nur der altbekannte Pöbel von Antakje und Umgebung in die verlassenen Ortschaften eingebrochen war; der Zustrom des heutigen Tages machte einen gewichtigeren Eindruck und schien auf ein planvolles Ziel hinzusteuern. Auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk herrschte hastiges Treiben. Turbanträger erkletterten die Feuerleiter der Kirche und bewegten sich im leeren Glockenturm seitlich der großen Kuppel. Langgedehnte Töne eines ganz dünnen Stimmchens wurden hörbar, nein, ahnbar, die in die vier Weltrichtungen verhallten. Vom Hause Christi schickte der Gebetrufer des Propheten die klagende Lockmelodie aus, die jeden Moslem erzittern läßt und die nun aus allen Flecken, Weilern, Hütten des öden Landes die Gläubigen in die Dörfer des Musa Dagh zu verführen schien. Das Schicksal der Kirche zu den wachsenden Engelmächten, die Awetis der Alte errichtet hatte, war besiegelt. Und im Hirne des Enkels zuckte der heiße Wunsch auf, den stolzen Zerstörungsversuch mit einigen Haubitzgranaten zu wagen. Doch er verwarf dieses Gelüste, kaum daß es geboren war. Sein alter Grundatz, immer nur verteidigen, nie angreifen, durfte von ihm am allerwenigsten durchbrochen werden. Am gefährlichsten wirkte der Berg auf die Feinde dort unten gewiß, wenn er tot und geheimnisvoll dalag. Jede Herausforderung mußte den Abwehrkampf schwächen, weil sie den Türken, als dem Staatsvolk, ein moralisches Recht der Strafe verschaffte.
    Angesichts des unbekannten Gewimmels im Tale fragte sich Bagradian, wie viele Kämpfe man noch werde durchhalten können. Die Munition blieb trotz der zweimaligen Siegesbeute und Nurhans Patronenmanufaktur äußerst begrenzt. Herzbeklemmend war der Umstand, daß der geringste Mißerfolg, die kleinste Schlappe unwiderruflich zum Untergang führen mußte. Für das Volk des Damlajik gab es keine Zwischenstufen, sondern nur große Siege oder den Tod. Der Verlust eines einzigen Grabens schon bedeutete das Ende. Gabriel Bagradian überlegte wie schon tausendmal, daß nicht nur ein solcher Verlust das Ende bedeute, sondern alles, das Gute und Schlimme, wie immer es sich auch gestalte. Seine kriegerische Kunst hatte nur dieses Ende hinauszuzögern, solange wie möglich. Zu diesem Zwecke durfte das Kapital der panischen Angst, die der Berg den Türken nach ihrer doppelten Niederlage offensichtlich einflößte, nicht unnütz verausgabt werden. Die neue Bevölkerung des Tals wuchs von Minute zu Minute. Eine militärische Unternehmung ist sicher nicht geplant, stellte Bagradian nach längerer Zeit fest. Die Absicht dieser Neusiedlung aber verstand er noch nicht ganz. Vielleicht war es die wirkliche, vielleicht nur die demonstrative Landnahme eines christlichen Bezirkes durch den Islam. Vor der Kirchentür von Yoghonoluk unterschied er eine kleine Gruppe von europäisch gekleideten Herren. Der Müdir mit seinen Unterbeamten, meinte er und freute sich, daß kein Offizier dabei war, um die Kriegslage zu begutachten. Dennoch gab Gabriel Bagradian den Befehl, die Bereitschaft in den Stellungen aufs äußerste zu verschärfen. Er ließ ferner alle Beobachterstände mit verdoppelten Posten besetzen und legte Kundschaftergruppen an alle Zugangspunkte des Damlajik bis zu den Obst- und Weingärten hinab, damit sie einen etwaigen Überrumplungsversuch der Türken bei Nacht unmöglich machten.
    Gabriel hatte richtig geschätzt. Vor der Kirche von Yoghonoluk stand der sommersprossige Müdir. Doch es war noch ein Ranghöherer erschienen, der leberkranke Kaimakam höchstselbst, um nach dem Rechten zu sehen. Das hatte seinen guten Grund. In Antiochia nämlich war nach dem zweiten, noch traurigeren und schmählicheren Rückzug der regulären Streitmacht einiges geschehen, was bedeutsame Folgen nach sich zog.
     
    Zwischen dem Kaimakam und dem armen Bimbaschi mit den Kinderwangen war sofort der Kampf auf Leben und Tod ausgebrochen. Der schlichte Kasernenvater einer vergangenen Zeit zeigte sich der Ittihad-Feinheit des neuen Stils in keiner Weise gewachsen. Erst jetzt ahnte er, warum sein scharfer Todfeind und Stellvertreter, der

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