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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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erfüllt, seine Praxis bis zum Tode in Yoghonoluk auszuüben und aus den armseligen sieben Dörfern bei Suedja nicht zu weichen? Ist vielleicht jemand des Glaubens, daß die Erfüllung dieses Eides und die unverrückbare Treue ein leichtes Opfer gewesen sei? Nicht zehn-, sondern dreißigmal lockte die ehrenvollste Verführung. Die Gemeindeverwaltung von Antakje hatte ihm öfters die günstigsten Anträge gemacht, ebenso Alexandrette, ja selbst die Großstadt Aleppo. Er besaß Anträge mit eigenhändiger Unterschrift von Wali und Kaimakam, in denen ihm das amtliche Physikat in der Kasah in Aussicht gestellt wurde, wenn er die elenden Nester an der Küste verlasse. Im ganzen Reiche war kein menschliches Wesen so gesucht, so hoch mit Gold aufgewogen wie ein Arzt, der das Diplom einer europäischen Hochschule sein nannte. Solche Männer besaßen den größten Seltenheitswert. Bedros Hekim hätte schon seit Jahrzehnten ein steinreicher Herr sein können, Hausbesitzer in Aleppo oder Marasch, geehrt von Stambul bis Deïr es Zor, Vorstand von zehn Spitälern, Generalstabsarzt der ottomanischen Armee. In seinem Fall hätte der Makel des Armeniertums keine Rolle gespielt und die Austreibung wäre an ihm mit geschlossenen Augen vorübergezogen. Wie aber stand es in Wirklichkeit um ihn? Was war der gnädige Dank des Schicksals dafür, daß er dem alten Wohltäter sein Versprechen gehalten hatte? Es ist überflüssig, darauf eine Antwort zu geben. Wer das Kreuz des Ideals auf sich nimmt, hat nichts andres zu erwarten. Vielleicht entschädigte den Alten das Bewußtsein der lebelang »hochgehaltenen Leuchte«. Doch gerade für diese nicht minder dekorative als ermüdende Tätigkeit hatte er sein allerbitterstes Lachen vorrätig. He, ich bitte euch, seht euch nur dieses Volk an! Wie wenig hat es gelernt in den vierzig Jahren, die ich in Yoghonoluk praktiziere? Den Argwohn gegen den »fränkischen Hekim« verliert es nie, mögen die Leute auch einem ins Gesicht so aufgeklärt tun, wie sie wollen. Gewiß, meine Mühe hat schon einige Früchte getragen. Die Sterblichkeit ist bei uns vielleicht geringer als in der Nachbarschaft, und gar in der muselmanischen. Und doch, nichts hat genügt, um Nunik samt allen anderen Gräberwachteln und Hausmagierinnen auszurotten. Wirft man sie bei Tag hinaus, so schleichen sie nachts, von den Angehörigen geholt, an die Krankenbetten zurück. Wie soll man da in diesem schmutzigen Meer des Aberglaubens die Fackel der Wissenschaft hochhalten, oder, was noch weit schwerer ist, hygienische Reinlichkeit durchsetzen?
    Ähnliche Reden bekam man von dem diplomierten Bedros Altouni gar oft zu hören. Was aber noch weit bitterer an ihm nagte, das behielt er bei sich. In all den langen Jahren, da er auf seinem frommen Reitesel nicht nur in den Dörfern Visiten abstattete, sondern auch von den Moslems des ganzen Bezirks häufig zu Rate gezogen wurde, hatte er die sonderbarsten Erfahrungen machen müssen. Sträubte sich auch sein ganzes wissensgläubiges Selbst dagegen, er mußte die zahlreichen Erfolge anerkennen, welche die schmutzigsten Gesundheitszauberer mit ihren ekelhaften Kuren, die aller Aseptik und Antiseptik ins Gesicht schlugen, immer wieder errangen. In achtzig von hundert Fällen lautete ihr Befund auf: »Böser Blick!« Die Gegenmittel bestanden aus Speichel, Schaf-Urin, verbranntem Pferdehaar, Vogelmist und noch appetitlicheren Arzneien. Und doch, mehr als einmal war es schon vorgekommen, daß ein von ihm aufgegebener Kranker, nachdem er einen Zettel mit Bibel- oder Koranversen verschlungen hatte, unheimlich schnell wieder genas. Altouni war nicht der Mann, an die Wunderkraft des verschluckten Zettels zu glauben und dadurch in Zweifelschwierigkeiten zu geraten. Aber was half es? Heilung war Heilung. Auch in den armenischen Dörfern verbreitete sich von Zeit zu Zeit die Kunde derartig glückhafter Therapie und dann geschah es, daß Altounis Fälle in hellen Scharen zu den arabischen Hekims der Umgebung ausrissen oder gar Nunik und ihre sauberen Schicksalsschwestern konsultierten. Nicht selten fanden sich unter den Abtrünnigen geeichte Aufklärer, selbsteigene Hochhalter der Leuchte, dieser oder jener Lehrer zum Beispiel, was den Gemütszustand des Arztes nicht gerade aufhellte.
    Lag hierin der eine Grund von Bedros Altounis Bitterkeit, so war der andre womöglich noch verschwiegener. Wissenschaft, Aufklärung, Fortschritt, wohlan! Aber um Aufklärung und Fortschritt zu verbreiten, muß man selbst

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