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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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erst aufgeklärt werden und fortschreiten dürfen. Wer aber konnte im Schatten des Musa Dagh fortschreiten, ohne Kenntnis neuer Errungenschaften, ohne medizinische Bücher und Zeitschriften? Krikors rückwärtsgewandte Bibliothek wußte auf die verrücktesten Fragen Bescheid, in der Heilkunde versagte sie, obgleich oder gerade weil ihr Inhaber Apotheker war. Bedros Altouni besaß nicht mehr als ein ›Handbuch der Medizin‹ in deutscher Ausgabe aus dem Verlagsjahre 1875. Dies war übrigens ein dickes Buch, in dem alles Nötige verzeichnet stand. Und doch hatte es damit ein kümmerliches Bewenden. Denn die unerbittliche Zeit war nicht nur über dem Vademecum dahingegangen, sondern auch nicht minder über Altounis Beherrschung der deutschen Sprache. Bedros Hekim jedoch glich nicht dem Apotheker. Blätterte dieser Auserwählte in den Bänden seiner Bücherei, deren Sprache er nicht mächtig war, so schlug die Flamme des Geistes dennoch auf ihn über und er vermochte wie die Sibylle aus verschlossenen Büchern zu weissagen, so daß selbst der mißtrauische, scheelsüchtige Oskanian Prophetie und Wissenschaft nicht unterschied. Bedros Altouni hingegen war ein dürftiger Rationalist, in dem die schöpferische Quelle nicht selbsttätig sprudelte. Deshalb schlug er sein stummgewordnes Handbuch gar nicht auf und benützte es nicht einmal mehr als Amulett und Fetisch. Alles, was er vor Jahrzehnten einmal theoretisch gelernt hatte, war zu einem unbeträchtlichen Etwas zusammengeschmolzen. Es gab für ihn daher nur zehn bis zwanzig benennbare Krankheiten. Obgleich er an menschlichen Leidensbildern unendlich viel gesehen hatte, stopfte er doch alles in die spärlichen Wissensfächer, über die er verfügte. Er hielt sich in der Tiefe seines armen Selbstgefühls für ebenso unbelehrt wie die Hekims, Kurpfuscher und Klageweiber ringsum, deren greuliche Kuren mit Hilfe einer geduldigen Natur verdammt oft gelangen. Gerade sein Mangel an Selbstgefühl war es, der ihn, ohne daß ers wußte, zum guten Arzte machte, denn jede Meisterschaft der Welt hat sowohl die Demut vor dem Unerreichbaren als auch das Unbehagen vor dem Erreichten zur Voraussetzung. Andrerseits entstammte derselben Ursache jener wütende Haß, der ihn, den enttäuschten Westler, beim Anblick Nuniks, Wartuks, Manuschaks stets in Harnisch brachte. Heute aber half ihm sein Zorn wenig. Die verjagten Kurpfuscherinnen hielten stand und musterten den alten Feind vom Rande des Dreizeltplatzes her mit höhnischen Augen.
    Howsannah Tomasian, die Pastorin, war die erste Frau des Volkes, die auf dem Damlajik in die Wehen kam. Selbst unten im Tale war die Geburt eines Kindes eine Art öffentliches Ereignis, zu dem die nähere Verwandtschaft und weitere Sippe Zutritt hatte, die Männer nicht ausgenommen. Um wieviel feierlicher und damit auch öffentlicher aber war dieses Ereignis hier oben, da in der ungeheuerlichsten Notlage, in der sich jemals ein Volksstamm befunden hatte, der erste Armenier-Sohn zur Welt kommen sollte. Selbst das strahlende Geschenk des Kriegsglücks, die beiden goldnen Haubitzen, verlor an Anziehungskraft. Die Menge, die am Vormittag zu den herrlichen Trophäen gepilgert war, drängte sich jetzt auf dem Dreizeltplatz, dieser vornehmsten Stätte des Elendlagers. Die Vorhänge wurden von dem Zelt der Gebärenden zurückgeschlagen und die arme Howsannah unerbittlich der Sonne ausgesetzt. Ihre Leiden gehörten ihr, doch sie gehörte nicht mehr sich selbst. Die Neugierigen gingen ein und aus. Bedros Altouni erkannte bald, daß er hier nicht an seinem Platze war, und räumte knurrend seiner Frau das Feld, die ja auch sonst den meisten Gebärenden in seiner Vertretung beistand. Er entfernte sich, ohne das tiefe Selam der Klageweiber zu beachten, zu den Verwundeten des Lazarettschuppens. Mairik Antaram blieb bei Howsannah. Sie drängte die Vordringlichen mit kräftigen Fäusten und Worten zurück. Entschlossen waltete sie ihres Amtes, das ihr seit Jahrzehnten vertraut war. Und doch, so alt Mairik Antaram auch geworden, sie konnte keiner Kreißenden beistehen, ohne daß ihr die beiden mißglückten Geburten ihrer eigenen Jugend einfielen. Iskuhi kühlte mit ihrer trotz des Gluttages eisigen Hand die Stirn der Schwägerin. Ihre Augen lagen mit ängstlichem Eifer auf Mairik Antaram, damit ihr ja keine Weisung entgehe. Mit ihrer ganzen Energie konnte es die Doktorsfrau nicht verhindern, daß die Menschen immer wieder mit Fragen, Ermunterungen, Ratschlägen in das Zelt

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