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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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eine Seelenregung, die alle Diktatoren seit eh und je vor ihren weniger erfolgreichen Mitmenschen auszeichnet, die Attentatsfurcht. Osman durfte nicht von seiner Seite weichen, hauptsächlich dann nicht, wenn irgend ein Herr aus Stambul vorsprach. Dschemal hielt es nämlich durchaus nicht für ausgeschlossen, daß seine lieben Brüder Enver und Talaat ihm einen tüchtigen Agenten des Todes mit guten Empfehlungen zu senden willens waren. Er las die Depeschen aufmerksam, insbesondere die von Enver Pascha. Obgleich der Fall, um den es sich handelte, ohne größere Bedeutung war, wurde seine gelbe Gesichtsfarbe noch fahler und die starken Lippen unter dem schwarzen Vollbart erblaßten vor Wut. Der General sprang auf und begann im Zimmer umherzulaufen. Er war ebenso klein wie Enver, aber ganz und gar nicht zierlich, sondern eher vierschrötig. Er hielt die linke Schulter etwas hochgezogen, weshalb Leute, die ihn nicht genau kannten, ihn für verwachsen ansahen. Aus den goldbesetzten Ärmeln seines Generalrockes hingen schwere rote Hände herab. Angesichts dieser Hände verstand man die Sage, die ihn zum Enkel des Scharfrichters von Stambul machte. Enver Pascha war aus dem leichtesten Stoff, Dschemal Pascha aus dem schwersten Stoff der Welt gebildet. War an jenem alles träumerisch launenhaft, so an diesem alles leidenschaftlich wüst. Dschemal Pascha haßte mit dem unerschöpflichen Haß des niedriger Gearteten den anmutigen Götterliebling. Er mußte sich alles schwer verdienen, was dem anderen unverdient in den Schoß fiel: Kriegsruhm, Spielerglück, Frauengunst. Dschemal nahm noch einmal die Depesche zur Hand und versuchte aus dem amtlichen Wortlaut Envers koketten Tonfall herauszuhören.
    In diesem Augenblick stand das Schicksal der sieben Gemeinden des Musa Dagh so scharf auf des Messers Schneide wie noch nie. Ein Dienstzettel Dschemals hätte genügt, um zwei volle Infanterie-Bataillone, eine Gebirgskanonenbatterie und einige Maschinengewehre gegen den Damlajik zu werfen. Damit wäre die Sache trotz Gabriel Bagradian und aller Tapferkeit binnen einer Stunde erledigt gewesen. Während Dschemal aber die Depesche noch einmal las, schien seine Wut den Siedepunkt zu übersteigen. Er brüllte den verdutzten Osman an, er möge ihn allein lassen und bei Todesstrafe nicht wieder zu stören wagen. Dann ging er ans Fenster, zog sich aber sofort wieder zurück, damit ihn niemand in seinem nackten Seelenzustand sehe. Könnte er Enver doch zermalmen! Diese Salondame des Krieges! Diesen geblähten Favoriten der schönen Welt! Diesen Faiseur, der niemals eine echte Männertat getan, der seinen Siegerruhm erschlichen hatte, bei der Wiedereroberung Adrianopels mit seinen Reitern sich vorschlängelnd, nachdem alles längst entschieden war. Und diesem eitlen, unbedeutenden Lustknaben des Ottomanischen Reiches mußte ein Dschemal nachstehen. Dieser geriebene Fant durfte es versuchen, einen Dschemal durch die Machtverleihung in Syrien erledigen zu wollen. Die Raserei des Generals gegen den Mars von Stambul reichte mehrere Seelenschichten tief. Ausgelöst wurde sie durch eine lächerliche Lappalie. Envers Telegramm begann mit den Worten: »Ich bitte Sie, schleunige Maßregeln zu ergreifen …« Die Anrede »Euer Exzellenz«, ja selbst das einfache »Pascha« fehlte. Nun war Dschemal ein Fanatiker der Förmlichkeit, und insbesondere im Verkehr mit Enver. Er wahrte mit gravitätischem Ernst die Form sogar bei freundschaftlichen Zusammenkünften. Mit fiebrischer Verletzlichkeit aber achtete er darauf, daß Enver Pascha auch ihm die gebührende Ehre bezeuge und keinen Buchstaben seiner Würde raube. Die Depesche mit der hochmütig vergessenen Anrede war nur der letzte Tropfen, der das Gefäß von Dschemal Paschas Haß zum Überlaufen brachte. Enver hatte in den letzten Monaten an den General die ungeheuerlichsten Forderungen gestellt, die von diesem schweigend erfüllt worden waren. Zuerst hatte Dschemal die Achte und Zehnte Division nach Stambul zurücksenden müssen, später noch die Fünfundzwanzigste, und schließlich wurde das ganze Dreizehnte Armeekorps nach Bagdad und Bitlis umbeordert. Im Augenblick gebot der kriegerische Diktator Syriens nur mehr über sechzehn bis achtzehn schäbige Bataillone, und zwar in einem riesigen Armeebereich, der von den Gipfeln des Taurus bis zum Suezkanal reichte. Dies war das Werk Enver Paschas und nicht der vorgeschützten allgemeinen Kriegslage; davon war der knirschende Dschemal überzeugt. Der

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