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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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verbrüderten sich. Niemals hatten sie schönere Häuser gesehen. Es war beinahe zu schade, darin zu wohnen. Aus den Kirchen hatte man im Handumdrehen Moscheen gemacht. Schon am ersten Abend fand ein Gottesdienst statt. Die Mollahs dankten Gott für den neuen herrlichen Besitz, den freilich noch ein Schatten trübe, das freche Leben der unreinen Christenschweine dort oben auf dem Berg. Es sei die Pflicht jedes Gläubigen, sie zu vertilgen. Dann erst würde man sich des üppigen Gutes in gerechter Frömmigkeit erfreuen dürfen. Die Männer verließen mit funkelnden Augen die Moscheen. Auch sie wünschten heiß, der beraubten Vorgänger schnell ledig zu sein, damit ein leises, recht unbehagliches Mißgefühl aus ihren anständigen Bauernseelen verschwinde.
    Finster, aber gleichgültig betrachteten die Verteidiger des Musa Dagh den Untergang ihrer Heimat.
     
    Was war mit der Zeit geschehen? Wieviel Ewigkeiten brauchte ein Tag, bis er sich in der Nacht verkrochen hatte? Und wie schnellfüßig war noch der Tag gegen die Schnecke der Nacht? Wo war Juliette? Wohnte sie schon lange in diesem Zelt? Hatte sie überhaupt jemals in einem Hause gewohnt? Hatte sie einmal in Europa gelebt? Wer war Juliette? Dieses Wesen war sie gewiß nicht, das unter dem Bergvolk gefangen saß. Dieses Wesen war sie gewiß nicht, das allmorgendlich mit der gleichen entsetzten Verwunderung erwachte. Eine weiße müde Gestalt glitt vom Bett, trat auf den Teppich, nahm einen Schlafrock um und setzte sich auf den Klappstuhl vor den kleinen Spiegeltisch, um ein fahles und doch von der Sonne versehrtes Gesicht zu bestarren. War es denn möglich? Konnte dieses Gesicht mit den matten Augen, den ausgetrockneten Haaren und dem verbrannten Teint einem jungen Menschen gefallen? Seit einigen Tagen entließ Juliette ihre Mädchen schon am frühen Morgen. Dann begann sie mit angstvollen Händen, als begehe sie ein Verbrechen, sich mit den Resten ihres Essenzenschatzes ein wenig herzurichten. Endlich zog sie sich an, band eine große Schürze vor ihr Kleid und schlang ein weißes Tuch um den Kopf wie eine Haube. Seitdem sie im Lazarettschuppen arbeitete, trug sie keine andere Gewandung mehr. Haube und Schürze taten ihr moralisch wohl. Sie empfand sie wie eine Uniform, die ihrer Stellung auf dem Damlajik äußerlich am gemäßesten war.
    Ehe Juliette das Zelt verließ, warf sie sich vor ihrem Bett nieder und umarmte das Kopfkissen, noch einmal den wachen Tag von sich weisend. Früher, vor Tagen (Jahren?), war sie nur ganz verloren und unselig gewesen. Jetzt aber sehnte sie sich nach jener Unseligkeit ohne Schuld zurück. Noch nie, seitdem die Welt bestand, hatte sich eine Frau so niedrig benommen wie sie. Und eine ehrbare, eine selbstbewußte Frau, der in langer Ehe niemals ein »Erlebnis« nahegekommen war. Wären aber nicht hundert Erlebnisse und Liebesabenteuer in Paris läßliche Bagatellen gewesen gegen diesen allergemeinsten Verrat im Angesicht des Verzweiflungskampfes und sicheren Todes? Wie ein kleines Mädchen flüsterte Juliette ins Kissen: »Ich kann nichts dafür.« Doch was half ihr das? Sie war durch einen Machtspruch, den sie nicht kannte, in der unerbittlichen Fremde dem anheimgegeben, was ihr verwandt erschien. Wie um eine Gegenkraft in sich zu erzeugen, rief sie halblaut: »Gabriel!« Aber Gabriel war ebensowenig vorhanden wie Juliette. Sein wahres Bild konnte sie immer seltener aus dem verblaßten Photographienalbum ihrer Erinnerung hervorholen. Und der fremde, bärtig braune Armenier, der sich dann und wann zu ihr setzte, was hatte der mit Gabriel zu schaffen? Juliette erschrak über ihre Tränen, wusch die Augen sorgfältig und wartete, bis sie nicht mehr rot und häßlich waren.
    Bedros Altouni hatte alle Verwundeten, die nicht schwer fieberten, fortgeschickt oder in ihre Hütten tragen lassen. Wenn er diese Maßnahme auch nicht näher begründete, so lag doch ein heikler Anlaß dafür vor. Der armenische Sieg vom vierzehnten August hatte sich blitzschnell in den Ebenen und Gebirgen Nordsyriens herumgesprochen. Insbesondere den Fahnenflüchtigen, die sich auf anderen Bergen ringsum noch versteckt hielten, war er sehr zu Herzen gegangen. Tatsächlich meldeten sich schon am nächsten Tage zweiundzwanzig neue Deserteure bei den vorgeschobenen Posten und verlangten Aufnahme in die Kämpferreihen. Gabriel Bagradian, der wegen Verrats und Spionage auf der Hut sein mußte, prüfte die Kandidaten eingehend. Da sie sich durchwegs als Armenier

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