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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Generalissimus hatte ihn auf seine taschenspielerische Art völlig entwaffnet, ihn unschädlich gemacht und zugleich um jede Möglichkeit eines Erfolges gebracht. Mit dem erleuchteten Gedächtnis des Hasses brachen in Dschemals Geist hundert verräterische Einzelheiten auf, in denen sich Envers verächtliche Beziehung zu ihm spiegelte. Dieser mitsamt seiner Clique hatte ihn immer fern gehalten, von entscheidenden Beschlüssen nicht verständigt, zu intimen Beratungen nicht eingeladen. Das Verhältnis war für Dschemal von allem Anfang an eine Kette von ausgesuchten Erniedrigungen gewesen, und die größte Erniedrigung lag darin, daß er sich gegen Enver nicht behaupten konnte, daß er durch dessen Gegenwart und Wirkung rettungslos zum zweiten Rang herabgedrückt wurde, obgleich er von seiner eigenen Überlegenheit als Führer und Soldat erfüllt war. Dschemal Pascha lief, die linke Schulter hochziehend, noch immer um den Tisch. Er fühlte sich völlig machtlos. Durch seinen Kopf zuckten knabenhafte Traumbilder. Mit einer neuen Armee in Stambul einrücken und die freche Blase gefangensetzen, den alliierten Flotten den Bosporus öffnen und ein Bündnis mit dem gegenwärtigen Feinde schließen! Er nahm zum drittenmal die Depeschen in die Hand, warf sie aber sogleich wieder hin. Womit nur konnte man Enver und Genossen am giftigsten wehtun!? Dschemal wußte, daß sie die Ausrottung der Armenier für ihr patriotisch heiligstes Werk ansahen, und er selbst hatte eine ähnliche Meinung oft vertreten. Doch niemals hätte er diesen echt Enverschen Dilettantismus geduldet, daß Syrien zur Kloake des armenischen Todes gemacht werde. Zu den Beratungen über die Deportation war er vom Kriegsminister wohlweislich nicht zugezogen worden. Von dem Plan des süßen Enver wäre ja sonst kein Haar übrig geblieben. Dies auch war einer der Gründe, warum ihn der anmutige Schurke in den Südosten verführt hatte. Nun überlegte er in seiner wilden Rachsucht, ob er die Grenzen Syriens nicht sperren, die Transporte nach Anatolien zurückjagen und das große Werk damit zunichte machen solle. – Im selben Augenblick klopfte der Stabschef Oberst von Frankenstein an die Tür. Dschemal verwarf sofort alle leeren Ausgeburten seiner Erregung. Er wurde der besonnene, ja beinahe skrupelhaft wägende General, als den ihn seine Untergebenen kannten. Seine leidenschaftlichen Asiatenlippen verkrochen sich schleunig im schwarzen Vollbart. Besonders dem deutschen Obersten gegenüber ließ er sichs stets angelegen sein, den Eindruck mürrischer, aber unabwendbarer Logik hervorzurufen. Von Frankenstein bekam nunmehr den gelassensten und kältesten Feldherrnblick Dschemals zu sehen. Sie setzten sich an den Tisch, der Deutsche öffnete seine Aktentasche, zog Notizen hervor, um über die Aufstellung neuer Truppen in Syrien zu referieren. Da bemerkte er die Depeschen, die vor ihm lagen, Enver Paschas Befehl obenauf:
    »Exzellenz haben wichtige Post erhalten …«
    »Lassen Sie sich nicht stören, Oberst«, meinte Dschemal, »was hier wichtig ist, das hängt nicht vom Kriegsminister ab, sondern von mir allein.«
    Und er nahm mit seiner roten Hand Envers Depesche, zerriß sie in kleine Fetzen und streute sie aus dem Fenster, das zur Davidburg hinübersah. In der Empfindlichkeit dieses türkischen Gewalthabers hatte Gabriel Bagradian einen unfreiwilligen Bundesgenossen bekommen. Denn Dschemal Pascha gab weder eine Antwort, noch auch schickte er einen Mann, ein Maschinengewehr oder ein Geschütz nach Antakje, um den Musa Dagh auszuräuchern.
     
    Die Untätigkeit Dschemal Paschas rettete die Bergarmenier vor einem raschen Untergang, ohne sie von der langsameren Todesumschnürung befreien zu können. Wenn auch der Diktator Syriens und Palästinas selbst nicht eingriff, so gab es untergeordnete Kommandostellen genug, die selbständige Entschlüsse treffen konnten. Der scharfe Major, des unseligen Bimbaschi von Antakje Nachfolger, hatte in Aleppo von dem Etappen-General die Zusendung von mehreren Kompagnien der dortigen Garnison erwirkt. Ebenso stellte der Wali in einem Schreiben dem Kaimakam den Abmarsch einer großen Saptiehtruppe in Aussicht. Man sieht also, daß der Kaimakam mit seinem Schritt in Aleppo Erfolg gehabt hatte. Und Erfolg stachelt den Ehrgeiz auf.
    Gabriel Bagradian hatte auf seiner Beobachtungskuppe so oft das Gefühl gehabt, der Damlajik sei der tote Punkt in einem unendlichen Drehsystem, der absolute Stillstand innerhalb einer unsichtbaren, aber

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