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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Geschäftshäuser und Läden geschlossen. Und während wir hier miteinander sprechen, hängen auf dem Platz vor dem Seraskeriat fünfzehn unschuldige armenische Männer an fünfzehn Galgen.«
    Gabriel Bagradian fuhr so heftig auf, daß der Rohrsessel umfiel:
    »Was bedeutet dieser Wahnsinn? Wer kann das verstehen?«
    »Ich verstehe nur, daß die Regierung gegen unser Volk einen Schlag plant, wie ihn selbst Abdul Hamid nicht gewagt hat.«
    Gabriel fauchte Ter Haigasun so erbost an, als hätte er einen Feind, ein Mitglied von Ittihad vor sich:
    »Und sind wir denn wirklich ganz machtlos? Müssen wir wirklich den Kopf schweigend hinhalten?!«
    »Machtlos sind wir. Den Kopf müssen wir hinhalten. Schreien dürfen wir vielleicht.«
    Der verfluchte Orient mit seinem Kismet, seiner Passivität, durchzuckte es Bagradian. Zugleich erfüllte ein Tumult von Namen, Beziehungen, Möglichkeiten sein Bewußtsein. Politiker, Diplomaten, die er kannte, Franzosen, Engländer, Deutsche, Skandinavier. Man mußte die Welt aufrütteln! Aber wie? Die Falle war geschlossen. Der Nebel zerfloß wieder. Sehr kleinlaut kam es ihm von den Lippen:
    »Europa wird es nicht dulden.«
    »Sie sehen uns mit fremden Augen.« Unerträglich war diese Gelassenheit Ter Haigasuns: »Es gibt heute zwei Europa. Die Deutschen brauchen die türkische Regierung mehr, als diese sie braucht. Und die andern können uns nicht helfen.«
    Gabriel starrte den Priester an, dessen gescheites Kameen-Gesicht nichts aus der Fassung bringen konnte:
    »Sie sind der geistliche Hirte von vielen tausend Seelen« – Bagradians Stimme hatte fast einen militärisch scharfen Ton – »und Ihre ganze Kunst besteht darin, daß Sie den Leuten die Wahrheit vorenthalten, so wie man Kindern und Greisen ein Unglück verschweigt, um sie zu schonen. Ist das alles, was Sie für Ihre Herde tun? Was tun Sie noch?«
    Mit diesem Angriff aber schien Gabriel den Priester tief getroffen zu haben. Seine Fäuste auf dem Tisch schlossen sich langsam. Der Kopf sank auf die Brust:
    »Ich bete …« flüsterte Ter Haigasun, als schäme er sich, den geistlichen Kampf preiszugeben, den er bei Tag und Nacht mit Gott um das Heil seiner Gemeinde führte. Vielleicht war der Enkel von Awetis Bagradian ein Freigeist und Spötter. Der aber ging, laut atmend, im Zimmer umher. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand klatschend gegen die Mauer, daß der Verputz abbröckelte:
    »Beten Sie, Ter Haigasun!« Und noch immer im Befehlshaberton:
    »Beten Sie … Aber man muß Gott auch unterstützen !«
     
    Das erste Ereignis, das Yoghonoluk von den verheimlichten Vorgängen in Kenntnis setzte, trat noch am selben Tage ein. Es war ein warmer, bewölkter Freitag im April.
    Gabriel Bagradian hatte auf Stephans Bitte im Park der Villa ein paar grobgezimmerte Turngeräte aufstellen lassen. Der Knabe war in allen körperlichen Übungen sehr geschickt und ehrgeizig. Es wurde auch mancher Sport getrieben, an dem sich der Väter beteiligte. Scheibenschießen war der beliebteste. Juliette freilich verstand sich bestenfalls zum Krocketspiel. Gabriel, Awakian und Stephan begaben sich heute gleich nach dem Mittagstisch – an dem der Vater kein Wort gesprochen hatte – zum Schießstand, der außerhalb der Umfassungsmauer des Parks auf einem waldigen Vorberg gelegen war. Dort hatte Bagradian in einer etwa fünfzig Schritt langen schluchtartigen Querrinne das Unterholz aushauen lassen. Unter einer hohen Eiche war eine Pritsche mit Holzkeil hingestellt, auf der man im Liegen die Scheibe, die am andern Ende der Rinne an einem Baum befestigt war, klar anvisieren konnte. Awetis, der Jüngere, hatte seinem Bruder einen üppigen Waffenkasten hinterlassen: acht Jagdflinten verschiedenen Kalibers, zwei Mauser-Infanteriegewehre und eine große Menge von Munition.
    Gabriel schoß leidlich gut, doch hatte er unter fünf Patronen nur einen vollwertigen Treffer zu verzeichnen. Der stark kurzsichtige Awakian enthielt sich des Wettbewerbs, um den Respekt seines Zöglings nicht allzusehr auf die Probe zu stellen. Dieser aber mußte ein Meisterschütze genannt werden, denn von den sieben Schüssen, die er aus dem kleinsten der Jagdstutzen abgab, steckten sechs in der Spielkarte, die als Mitte der Scheibe diente, und vier davon in der Figur. Der Erfolg, den Stephan als Schütze über seinen Vater errungen hatte, erregte ihn heftig. Dazu kam, daß der Umgang mit der Schußwaffe, das Aufreißen des Verschlusses, das kraftvolle Einschieben der

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