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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Patronen, Zielen, Knall und Rückstoß, daß all diese kriegerisch rauhe Tätigkeit auf jeden halbwüchsigen Burschen verwirrend und begeisternd wirkt. Er spürte den Schmerz in seiner schmalen rechten Schulter nicht, den der Kolbenstoß verursacht, und würde dieses männliche Spiel leidenschaftlich bis zum Abend fortgetrieben haben, hätte sein Vater nicht plötzlich abgewinkt:
    »Es ist genug!«
    Über Gabriel war nämlich ein unbekannter Zustand gekommen, desgleichen er sich nicht erinnerte je empfunden zu haben: Ein fades Gefühl seiner selbst. Die Zunge schwer und trocken. Hände und Füße kalt. Blutleere im Kopf. Dies aber waren nur die äußeren Merkzeichen eines Vorgangs im Mittelpunkte des Lebens selbst. Mir ist nicht schlecht, dachte er, nachdem er eine Weile gewartet hatte, was mit ihm geschehen werde, mir ist nicht schlecht, ich möchte nur aus meiner Haut fahren, mich selbst abstreifen. Zugleich bemächtigte sich seiner der sinnlose Wunsch, zu laufen, davonzulaufen, gleichviel wohin. »Wir werden ein bißchen spazieren gehn, Stephan«, entschied er. Nicht allein bleiben wollte Gabriel. Denn ihm war, als müßte er sonst mit kurzen hastigen Schritten gehn, gehn, immer weiter, nicht mehr zurückkehren, bis er außerhalb der Welt geraten sei.
    Awakian übernahm es, die Gewehre ins Haus zu tragen. Vater und Sohn aber verließen den Park und traten den Weg hinunter nach Yoghonoluk an, das keine zehn Minuten entfernt lag. Gabriel kam sich auf einmal wie ein uralter Mann vor, sein Körper wurde ihm so schwer, daß er sich auf Stephan stützte. Ehe sie noch den Kirchplatz erreicht hatten, schlug ihnen ein scharfes Stimmengewirr entgegen. Die Armenier sind im Gegensatz zu den Arabern und andern Lärmerzeugern des Ostens in der Öffentlichkeit still und verschlossen. Ihr altes Schicksal schon hält sie zurück, sich in schreiende Ansammlungen zu mischen oder solche gar zu veranstalten. Jetzt und hier aber hatten sich etwa dreihundert Dorfbewohner zusammengerottet, die in einem Halbbogen die Kirche belagerten. Unter diesen Männern und Frauen, Bauern und Handwerkern, gab es einige, die lange kehlige Verwünschungen ausstießen und die Fäuste schüttelten. Die Flüche galten ohne Zweifel den Saptiehs, deren abgetragene Lammfellmützen die Köpfe überragten. Die Hüter der Ordnung verfolgten wahrscheinlich die Absicht, die Menge von der Kirche zurückzudrängen, um Stufen und Eingang freizuhalten. Gabriel packte Stephans Hand und zwängte sich durch den Menschenhaufen. Sie sahen zuerst nur den hohen zerlumpten Kerl, der um seine schwarze Mütze einen Strohkranz geschlungen hatte und in der rechten Hand eine kurzabgeschnittene Sonnenblume schwang. Mit tödlichem Ernst vollführte die Erscheinung, einem inneren Rhythmus gehorchend, müd-tappende Tanzschritte. Es waren aber keineswegs Tanzschritte der Betrunkenheit. Das sah man sofort. Die Menge beachtete den Tänzer mit der Sonnenblume gar nicht. Ihre Augen hafteten an einem anderen Bild.
    Auf den Stufen der Kirche saßen vier Personen. Ein Mann, zwei junge Frauen und ein Mädchen, das zwölf oder dreizehn Jahre alt sein konnte. Es war ein menschliches Dahocken, wie Gabriel es nie gesehn hatte; eine Art von sitzender Leichenstarre bei lebendigem Leibe. Eine ähnliche Haltung hatten die Verschütteten, die man aus zweitausendjähriger Lava-Asche ausgrub: »Als ob sie lebten«. Alle vier sandten einen stumpfen und weiten Blick in die Ferne, in dem nichts haften blieb, nicht die bewegte Menge und nicht das Haus des Apothekers, das ihnen gegenüber lag. (Was ist das, ein Blick? Eine winzige Veränderung des Auges, eine dunkle oder helle Verfärbung. Und doch zugleich ein Flügelwesen, ein Engel, den der Mensch mit seiner Botschaft ausschickt. Diese Engel hier aber flohen mit ihrer Botschaft an allem vorbei, die Flügel vors Antlitz schlagend.)
    Der Mann, noch jung, mit einem schmalen, verwilderten Bart-Gesicht, trug einen langen grauen Lüsterrock, wie ihn hierzulande protestantische Pastoren zu tragen pflegen. Der weiche Strohhut war die Stufen hinabgerollt. Seine Hosen waren unten gänzlich ausgefranst. Die zerrissenen Stiefel, die dicke Staubkruste auf Gesicht und Rock des Mannes deuteten auf einen Fußmarsch hin, der einige Tage lang gedauert haben mußte. Auch die Frauen trugen europäische Kleidung, und zwar keine schlechte, soweit sich dies bei dem Zustand, in dem sie sich befanden, erkennen ließ. Jene, die dicht neben dem Pastor saß – unzweifelhaft seine

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