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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Nomaden, sondern unter Christenmenschen. Vor einigen Jahren hätten die damaligen Muchtars auf eigene Faust eine Volkszählung durchgeführt. Im Jahre 1909 nämlich – nach der Reaktion gegen die Jungtürken und nach dem großen Massaker in Adana – sei von der armenischen Volksvertretung der Befehl eingelangt, eine Zählung in den sieben Dörfern vorzunehmen. Man habe roh gerechnet sechstausend Christen zusammengebracht. Der Effendi aber könne, sofern er es wünsche, in einigen Tagen die genaue Ziffer erfahren. Gabriel wünschte es. Dann erkundigte er sich, wie es mit dem Militärverhältnis der kriegsdienstpflichtigen Jugend stehe.
    Diese Frage war schon heikler. Der Gemeindeschreiber begann ein bißchen zu schielen wie sein Herr, der Muchtar. Der Mobilmachungsbefehl habe bisher alle wehrfähigen Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren zu den Waffen gerufen, obgleich das Gesetz die obere Altersgrenze mit siebenundzwanzig vorschreibe. Etwa zweihundert Männer seien im gesamten armenischen Dörferbezirk betroffen worden. Davon hätten genau hundertundfünfzig den Bedel, die gesetzliche Loskaufsumme vom Militärdienst entrichtet, und zwar fünfzig Pfund auf den Kopf. Der Effendi wisse ja, daß man hierzulande sehr sparsam sei. Die meisten Familienväter sorgen schon gleich nach der Geburt von Söhnen für den Bedel vor, um diese vom türkischen Soldatenschicksal zu befreien. Der Muchtar von Yoghonoluk sammle in Begleitung des Gendarmeriepostens bei jedem neuen Aufgebot die Steuer ein und entrichte sie persönlich im Hükümet von Antakje.
    »Wie kommt es aber«, forschte Bagradian weiter, »daß es unter sechstausend Seelen nur zweihundert Männer im Wehralter gibt?« Er bekam eine Antwort, die ihm nicht unbekannt war. Der Effendi möge bedenken, daß der Mangel an rüstigen Männern ein Erbteil der Vergangenheit, eine Folge des schweren Blutverlustes sei, der in jedem Jahrzehnt mindestens einmal über das armenische Volk komme.
    Das war nur eine schöne Redensart. Gabriel hatte selbst mehr als zweihundert junge Männer in den Dörfern gesehn. Es gab eben auch Mittel, dem Dienst zu entgehn, ohne den vollen Bedel zu leisten. Der pockennarbige Saptieh Ali Nassif befand sich gewiß in voller Kenntnis dieser Mittel. Bagradian kehrte zum Gegenstand zurück:
    »Nun! Fünfzig Leute sind zur Musterung nach Antakje gekommen. Was ist mit ihnen geschehen?«
    »Vierzig von ihnen sind behalten worden.«
    »Und in welchem Regimentern, an welchen Fronten dienen diese vierzig?«
    Das sei unbestimmt. Die betroffenen Familien hätten seit Wochen und Monaten keine Nachricht von ihren Söhnen. Die türkische Feldpost sei ja allgemein durch ihre Zuverlässigkeit bekannt. Möglicherweise befänden sie sich in den Kasernen von Aleppo, wo der General Dschemal Pascha seine Armee neu aufstelle.
    »Und in den Dörfern spricht niemand davon, daß man Armenier zu Inschaat Taburi, zu Armierungssoldaten machen will?«
    »Man spricht manches in den Dörfern«, meinte der Schreiber scheu.
    Gabriel betrachtete das kleine Regal. Ein ›Verzeichnis des Hausbesitzes‹ stand neben einer Ausgabe des ›Kaiserlich ottomanischen Gesetzbuches‹ und daneben eine rostige Briefwaage. Er drehte sich unvermittelt um:
    »Und die Deserteure?«
    Der inquirierte Gemeindeschreiber ging geheimnisvoll zur Tür, öffnete und schloß sie wieder geheimnisvoll. Selbstverständlich gebe es auch hier Deserteure, hier wie überall. Warum sollten die Armenier nicht desertieren, da ihnen die Türken ja dazu das Vorbild lieferten? Wieviele Deserteure? Fünfzehn bis zwanzig. Ja! Man habe auch nach ihnen gefahndet. Vor einigen Tagen. Eine Patrouille, aus Saptiehs und regulären Infanteristen zusammengesetzt, unter Führung eines Mülasim. Die hätten den ganzen Musa Dagh abgesucht. Zum Lachen!
    Das spitze Gesicht des blinzelnden Männchens verklärte plötzlich ein wilder und piffiger Triumph:
    »Zum Lachen, Herr! Denn unsere Burschen, die kennen ihren Berg!«
     
    Das Pfarrhaus, das Ter Haigasun bewohnte, war neben dem Muchtar- und dem Schulhaus das ansehnlichste auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk. Es hätte mit seinem flachen Dach und der fünffenstrigen Einstock-Front in jeder süditalienischen Kleinstadt stehen können. Das Pfarrhaus gehörte zu der Kirche der »wachsenden Engelmächte«, was dem Sinne nach soviel wie Himmlische Heerscharen bedeutet, und Awetis, der Alte, hatte in den Siebzigerjahren damals beide zugleich errichten lassen.
    Ter Haigasun war der

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