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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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gregorianische Hauptpriester des ganzen Bezirks. Zu seinem Wirkungskreis gehörten auch noch die Ortschaften mit gemischter Bevölkerung und die kleinen armenischen Gemeinden der türkischen Marktflecken Suedja und El Eskel. Er war unmittelbar vom Patriarchen in Konstantinopel zum Wartabed dieses Sprengels, zum Vorstand der einzelnen Kirchen und ihrer verehelichten Priesterschaft ernannt worden. Ter Haigasun hatte auf dem Seminar zu Edschmiadsin studiert, zu Füßen des Katholikos, in dem die armenische Christenheit ihr höchstes Oberhaupt verehrte, und war demnach in jeder Weise der berufene Vikar in seinem Bezirk.
    Und Pastor Harutiun Nokhudian? Wie kamen plötzlich protestantische Pastoren in diesen asiatischen Winkel? Nun, es gab eine beträchtliche Menge von Protestanten in Anatolien und Syrien. Die evangelische Kirche hatte diese Proselyten den deutschen und amerikanischen Missionaren zu verdanken, die sich der armenischen Opfer und Waisen so hilfreich annahmen. Der gute Nokhudian war selbst solch ein Waisenkind, den jene erbarmensreichen Väter nach Dorpat in Ostdeutschland gesandt hatten, damit er dort Theologie studiere. Doch auch er unterwarf sich in allen Dingen, welche nicht die engere Seelsorge betrafen, der Autorität Ter Haigasuns. In Anbetracht der stets gefährdeten Lage des Volkes spielten die dogmatischen Unterschiede in den Bekenntnissen keine herrschende Rolle und die Vorrangstellung des geistlichen Führers – und dies war Ter Haigasun im wahrsten Sinne des Wortes – blieb unbekrittelt und unangefochten.
    Gabriel wurde von einem alten Mann, dem Kirchendiener, in das Arbeitszimmer des Priesters geführt. Ein leerer, mit einem großen Teppich bedeckter Raum. Doch stand, zum Fenster gerückt, ein winziger Schreibtisch da und daneben ein ausgefaserter Strohsessel für Besucher. Ter Haigasun erhob sich hinter dem Schreibtisch und kam Bagradian einen Schritt entgegen. Er war nicht älter als achtundvierzig Jahre, doch sein Bart wies rechts und links zwei dicke weiße Strähnen auf. Seine großen Augen – (Armenieraugen sind fast immer groß, schreckensgroß von tausendjährigen Schmerz-Gesichten) – besaßen einen gemischten Ausdruck von scheuer Verlorenheit und entschlossenem Weltsinn. Der Wartabed trug eine schwarze Kutte und über dem Kopf eine Kapuze, die spitz zulief. Er versteckte seine Hände hie und da in den weiten Ärmeln der Kutte, als fröstle er selbst an diesem warmen Frühlingstag. Es war wie ein Frösteln aus Demut. Bagradian ließ sich mit Vorsicht auf dem gebrechlichen Strohsessel nieder.
    »Ich bedaure es sehr, hochwürdiger Herr, daß ich Sie niemals in meinem Hause begrüßen darf.«
    Der Priester schlug die Augen nieder und machte mit beiden Händen eine Entschuldigungsgebärde:
    »Ich bedaure es mehr als Sie, Effendi. Aber der Sonntag-Abend ist die einzige Zeit, die unsereins für sich selbst übrig hat.«
    Gabriel sah sich um. Er vermutete, in dieser Pfarrkanzlei Akten und Folianten zu finden. Nichts davon. Nur auf dem Schreibtisch lagen ein paar Schriftstücke.
    »Es liegt eine große Last auf Ihnen, das kann ich mir genau vorstellen.«
    Ter Haigasun leugnete es nicht:
    »Die weiten Entfernungen sind es, die soviel Zeit und Anstrengung kosten. Mir geht es so wie unserem Doktor Altouni. Schließlich wollen auch unsere Volksgenossen in El Eskel und oben in Arsus betreut werden.«
    »Ah, so weit«, meinte Gabriel, ziemlich geistesabwesend, »da kann ich mir wohl denken, daß Sie für gesellige Zusammenkünfte keine Zeit und Lust haben.«
    Ter Haigasun sah vor sich hin, als sei er nicht richtig verstanden worden:
    »Nein, nein! – Ich weiß die Ehre zu schätzen und werde zu Ihnen kommen, Effendi, wenn für mich eine Erleichterung eintritt …«
    Er unterbrach sich, wie um das Wort »Erleichterung« nicht näher erklären zu müssen:
    »Es ist sehr begrüßenswert, daß Sie unsere Leute um sich versammeln. Die entbehren hier viel.«
    Gabriel versuchte die Augen des Priesters festzuhalten:
    »Glauben Sie nicht, Ter Haigasun, daß für gesellige Zusammenkünfte jetzt nicht die richtige Zeit ist?«
    Ein kurzer, aufmerksamer Blick des Priesters:
    »Im Gegenteil, Effendi! Es ist jetzt die richtige Zeit dafür, daß unsere Leute zusammenkommen.«
    Auf diese seltsam vieldeutigen Worte sagte Gabriel Bagradian zunächst nichts. Es verging eine ganze Weile, ehe er hinwarf:
    »Man staunt wirklich, daß hier das Leben so ruhig weiter geht und sich niemand Sorgen zu machen

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