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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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der erste Kriegswinter ins Land, ohne daß aus dem stillen Wasser Zeituns der kleinste »Fall« zu fischen gewesen wäre, wie er höherenorts dringend begehrt wurde. Da entschloß sich der Kaimakam, selbst die Rolle des agent provocateur zu übernehmen.
    Das Glück oder vielmehr das Unglück von Nazareth Tschausch wollte es, daß er in dem Kaimakam einen ganz unzulänglichen Gegenspieler besaß. Dieser war kein blutiger Tyrann, sondern ein Durchschnittsbeamter alten Stils, der einerseits seine Ruhe haben wollte und andrerseits sich nach »oben« decken mußte. Dieses Oben bestand in erster Linie aus dem Mutessarif des Sandschaks Marasch, dem die Kasah von Zeitun unterstand. Der Mutessarif selbst war ein äußerst scharfer Mann, unerschrockenes Mitglied von Ittihad, gewillt, die Entschlüsse Envers und Talaats über die »verfluchte Rasse« erbarmungslos zu vollstrecken, und sei es gegen die Befehle seines Vorgesetzten, des Wali von Aleppo, Djelal Bey. Der Mutessarif überschüttete den Kaimakam mit Anfragen, Mahnungen und peitschenden Vorwürfen. Dadurch sah sich der dicke Landrat von Zeitun gezwungen – weit lieber hätte er in Frieden mit den Armeniern gelebt –, irgend ein Anklagefaktum zustandezubringen, wenn auch nur gegen eine einzige hervorragende Persönlichkeit. Das Wesen des farblosen Beamten besteht ja gerade darin, daß er ohne eigenen Charakter den jeweiligen Vorgesetzten spiegelt. Der Kaimakam machte sich also an den Muchtar Nazareth Tschausch heran, lud ihn täglich zu sich, überschüttete ihn mit Freundlichkeit und bot ihm sogar gute Geschäfte mit dem Staat an. Tschausch erschien nicht nur pünktlich, wenn es gewünscht wurde, sondern er machte sich auch mit der arglosesten Miene die geschäftlichen Anregungen zunutze. Bei diesen Zusammenkünften kam man natürlich immer herzlicher ins Gespräch. Der Landrat setzte dem Bürgermeister seine leidenschaftliche Freundschaft für die Armenier auseinander. Tschausch aber bat inständig, solches Wohlwollen nicht so zu übertreiben; alle Völker hätten ihre Fehler, die Armenier nicht zuletzt. Sie müßten sich erst je nach Verdienst ihren Rang im Vaterland erwerben. Welche Zeitungen denn der Muchtar lese, um sich über die Lage wahrheitsgemäß belehren zu lassen? Nur den ›Tanin‹, das offizielle Reichsblatt, gab Tschausch zur Antwort. Was aber die Wahrheit anbetreffe, so lebe man ja in einem weltumstürzenden Kriege und die Wahrheit sei überall eine der verbotenen Waffen. Der Kaimakam, in seiner hilflosen Einfalt deutlicher werdend, begann Ittihad zu lästern, die Macht hinter der Macht. (Wahrscheinlich kam es ihm sogar vom Herzen.) Nazareth Tschausch erschrak sichtlich:
    »Es sind große Herren und große Herren wollen das Beste.«
    Der Gefoppte geriet in Wut:
    »Und Enver Pascha? Was denkst du von Enver, Muchtar?«
    »Enver Pascha ist der größte Krieger unserer Zeit. Doch was verstehe ich davon, Effendi?«
    Nun begann der Kaimakam wehleidig zu blinzeln und zu betteln:
    »Sei offen mit mir, Muchtar! Weißt du, daß die Russen vorrücken?«
    »Was sagst du da, Effendi? Ich glaube es nicht. Es steht nicht in der Zeitung.«
    »Nun sage ich es dir. Sei offen, Muchtar! Wäre das nicht eine Lösung …«
    Nazareth Tschausch unterbrach ihn fassungslos:
    »Ich warne dich, Effendi! Ein hochgestellter Mann wie du! Sprich nicht weiter, um Gotteswillen. Es wäre Hochverrat. Doch fürchte dich nicht! Dein Wort bleibt in mir begraben.«
    Wo dergleichen feine List versagte, war die offene Roheit nicht ferne.
    Selbstverständlich gab es auch in Zeitun und seiner rauhem Umgebung »Elemente«. Diese erhielten, je länger der Krieg dauerte, um so häufiger Zuzug von außen. Aus den Kasernen von Marasch waren nicht nur etliche Armenier sondern mindestens ebensoviel Mohammedaner durchgebrannt. Der zerrissene Bergkegel Ala Kaja bot einen bewährten und angenehmen Aufenthalt für Deserteure jeder Sorte, wie es sich in den Kasernen herumgesprochen hatte. Zu diesen Deserteuren stießen noch ein paar Hitzköpfe, ein Dutzend freibeuternder Naturen, die entweder etwas auf dem Kerbholz hatten oder die unbekömmliche Luft der Stadt nicht länger atmen wollten. Mitglieder dieser scheuen Gesellschaft tauchten hie und da nachts in den Gassen auf, um Proviant zu holen oder ihre Familien zu besuchen. Bis auf ein paar harmlos landesübliche Räubereien taten sie niemand etwas zuleide und waren sogar bestrebt, kein Ärgernis zu geben.
    Eines Tages aber wurde in den Bergen ein

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