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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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wie es ihnen versprochen war, ein lustiges und ertragreiches Massaker zu feiern. Und das Schlimmste, selbst die regulären Bataillone, die zu ihrer Unterstützung herbeieilten, wurden von den Zeitunlis unter grausamen Verlusten aus den engen Gassen geprügelt. Nicht einmal die Belagerung mit großer Macht, die dieser Niederlage folgte, richtete das geringste aus. Zeitun blieb uneinnehmbar. Als sich schließlich die europäische Diplomatie für den tapferen Armenierstamm ins Mittel legte und die Botschafter bei der Hohen Pforte, die sich schmachbedeckt nicht zu helfen wußte, eine vollkommene Amnestie für Zeitun erwirkten, da kannte die knirschende Demütigung keine Grenzen mehr. Alle kriegerischen Nationen, nicht nur die osmanische, überwinden militärische Mißerfolge, die ihnen von Gleichgearteten zugefügt werden. Aber durch eine Rasse geschlagen werden, die dem Waffenideal abhold ist, durch Händler, Handwerker und Bücherwürmer sich erniedrigt zu sehn, das kann ein wehrhafter Sinn niemals vergessen. So übernahm die neue Regierung, nachdem die alte verschwunden war, die Erinnerung an die Schlappe von Zeitun und die Erbschaft des Hasses.
    Welche Gelegenheit aber wäre zur Heimzahlung günstiger gewesen, als der große Krieg? Ausnahmszustand und Kriegsrecht waren verkündet. Die männliche Jugend stand zum größten Teil an der Front oder lag in entfernten Kasernen. Die daheimgebliebene Bevölkerung hatte man sogleich in den ersten Tagen durch wiederholte Haussuchung gründlich entwaffnet. Es fehlte nur eines noch: die Gelegenheit.
    Der Bürgermeister von Zeitun hieß Nazareth Tschausch. Er war der echte Berg-Armenier. Hager, vornübergebeugt, blaß, mit einem buschig hängenden Schnurrbart unter der gebogenen Nase. Kein junger und gesunder Mann mehr, hatte er sich lange gegen die Übernahme der Verantwortung gewehrt. Er roch den brenzelnden Geruch der Zukunft. Die Querfalten über seiner Nasenwurzel wurden täglich tiefer, wenn er den steilen Weg zum Hükümet emporstieg, um die neuen Verfügungen des Kaimakams kennen zu lernen. Seine Hand, die einen groben Stock umklammerte, war von schmerzhaften Gichtknoten entstellt. Der gescheite Kopf des Nazareth Tschausch hatte sogleich eingesehen, daß es fortan nur eine einzige Politik geben könne, gegen jede Provokation gewappnet zu sein, keinem Gesinnungs-Hinterhalt in die Falle zu gehn und um Gottes oder des Teufels Willen ein strammer ottomanischer Patriot zu sein. Im übrigen hegte Nazareth Tschausch ebensowenig wie die anderen Zeitun-Armenier eine Tücke gegen die Türkei im Herzen. Sie war das Schicksal der Nation. Man kann mit der Erde, auf der man lebt, mit der Luft, die man atmet, nicht hadern. Er spielte mit keinen kindischen Befreiungsträumen, denn schließlich war die Wahl zwischen dem Sultan- und dem Zarenreich nicht minder schwer als überflüssig. Er blieb ein Anhänger jenes Wortes, das seinerzeit unter Armeniern eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte: »Lieber in der Türkei körperlich zugrunde gehn als in Rußland geistig.« Einen dritten Weg gab es nicht.
    Die Verhaltungsweise gegenüber der türkischen Behörde war somit eindeutig bestimmt. Das lebendige Vorbild ihres Führers Nazareth Tschausch schuf in der Bevölkerung eiserne Zucht. Bis auf weiteres kam keine danach geartete Vorfallenheit den heimlich-lüsternen Wünschen der Obrigkeit zustatten. Eine blutrünstige Musterungskommission erklärte Krüppel und Kranke für tauglich. Gut! Sie rückten ohne Wimperzucken ein. Der Kaimakam schrieb ungesetzliche Steuern und Kriegsleistungen aus. Gut! Sie wurden pünktlich erstattet. Derselbe Kaimakam ordnete bei den dümmsten Anlässen Siegesfeiern und patriotische Umzüge an. Gut! Das Volk erschien, strahlend von Bravheit, und sang die vorschriftsmäßigen Hymnen und Triumphlieder zum Takt der türkischen Militärmusik ab.
    Auf diese Weise also gelangte man zu keinen Ereignissen. Was der großen Provokation demnach nicht glückte, sollte die kleine erreichen. Mit einem Mal tauchten im Bazar, in den Cafés und Herbergen, auf allen Gassen und öffentlichen Plätzen ortsfremde, aber dennoch zutunliche Armenier auf, mischten sich in die Unterhaltungen, kiebitzten beim Karten- und Beinspiel, schlichen sich sogar in die Familien ein, woselbst sie besonders tief über die unerträglichen Zustände und die wachsende Bedrückung seufzten. Die Tageslosung des Verrats, welche diese Spitzel und Naderer heimbrachten, deckte nicht einmal die Selbstkosten. So kam

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