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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Regierungsspitzen in Stambul sahen sich am Ziel ihrer Wünsche. Die Zeit der kleinen Herausforderungen war vorüber und der effektvolle Aufruhr in schönster Blüte. Nun durften die neutralen und verbündeten Konsuln ihre Augen vor den armenischen Umtrieben nicht mehr verschließen. Schon zwei Tage später traf in Zeitun militärische Assistenz ein, vorläufig zwei Kompagnien von Linieninfanterie. Der Jüs-Baschi, der kommandierende Major, begann sofort mit der Belagerung. Aber mochte er nun ein wirklicher Held sein oder nur ein Schwachkopf, – als er ungedeckt hoch zu Roß an der Spitze einer Abteilung auf das Tekkeh zusprengte, um die Festung auf diese sehr offenherzige Art im Handstreich zu erobern, wurde er nebst sechs seiner Soldaten durch sichere Schüsse niedergestreckt. Das war in der Tat mehr als man verlangt hatte. Der Heldentod des Majors wurde sogleich in allen Städten des Reiches mit Posaunenstößen verkündet. Ittihad arbeitete fieberhaft, um dem Aufschrei der Empörung den rechten Nachdruck zu verleihen. Keine halbe Woche verging und Zeitun hatte sich in ein Heerlager verwandelt. Eine Streitmacht von vier Bataillonen und zwei Batterien war aufgeboten worden, um eine Rotte Verzweifelter und Fahnenflüchtiger auszuheben. Und dies geschah zu einem Zeitpunkt, da Dschemal Pascha jeden Mann und jede Kanone für seine vierte Armee brauchte. Trotz des gewaltigen Heerbanns aber wurde in das belagerte Kloster ein Parlamentär gesandt, um die Verlorenen zur Übergabe aufzufordern. Er bekam die antike Antwort:
    »Da wir schon sterben müssen, so sterben wir lieber im Kampf.«
    Das ganz und gar Überraschende jedoch war, daß sie nicht sterben mußten. Denn kaum hatte die Belagerungsartillerie vier nutzlose Granaten gegen den verfallenen Bau abgegeben, als das Feuer auf irgendeine geheimnisvolle Einflußnahme hin plötzlich eingestellt wurde. Waren die wenigen Moslems, die sich unter den Eingeschlossenen befanden, ein zureichender Grund für solche ungehörige Menschlichkeit? Was aber auch immer damit geplant war, die lächerlich starke Streitmacht lag von Stund an untätig gegen das Häuflein von Deserteuren und Frauenverteidigern zu Felde und beschäftigte sich nach müßiger Soldatenart lediglich mit Menagieren, Pferdetränken, Rauchen und Kartenspielen. Die Einwohner von Zeitun sahen in dieser beklemmenden Ruhe mit Recht das Anzeichen eines besonders raffinierten Unheils. In ihrer Todesangst schickten sie eine Abordnung zum Kaimakam und baten, die tapferen Truppen möchten sie nur schnell von den verfluchten Rebellen befreien. Sie hätten mit ihnen nichts zu schaffen. Sollte einer der Missetäter in die Stadt flüchten, sie würden ihn erbarmungslos der Behörde übergeben. Wehmütig klagte der Kaimakam, die Vernunft komme zu spät. Das militärische Platzkommando fälle nunmehr alle Entscheidungen. Er selbst sei nur noch eine geduldete Nebensache. Die Abgesandten flehten, ob es nicht möglich sei, die Vermittlung Seiner Exzellenz des Wali Djelal Bey in Aleppo anzurufen. Wenn jemand die Verwicklung zum allgemeinen Besten lösen könne, so dieser würdige und wohlwollende Mann. Der Kaimakam verzog den Mund. Er könne nur raten, den Namen Djelal Bey aus dem Spiel zu lassen. Der Mutessarif habe ganz andere Verbindungen. Und Seine Exzellenz in Aleppo sei in dieser Hinsicht ein toter Mann. Das komme daher, wenn man der armenischen Millet zuviel Güte erweise. Er persönlich wisse ein Lied davon zu singen.
    An einem strahlenden Märzmorgen verbreitete sich das schreckliche Gerücht in der Stadt, die Belagerten seien in der Nacht mit Zurücklassung von zwei Toten, die sie aber unkenntlich gemacht hätten, entkommen und im Gebirge verschwunden. Wer von den Zeitunlis nicht wundergläubig war, fragte: Wie, hundert zerlumpte, höchst auffällige Gestalten können spurlos durch eine Kette von mehr als viertausend geschulten Soldaten verschwinden? Und der Frager wußte wohl, was es zu bedeuten habe. Das Gefürchtete traf schon um die Mittagsstunde dieses Tages ein. Der Militärkommandant und der Kaimakam machten die Gesamtbevölkerung für den Ausbruch der hundert verantwortlich. Die hochverräterischen Zeitunlis hätten auf irgend eine teuflisch verschlagene Weise die Belagerten durch den sanftschlummernden Truppenring an den Wachtposten vorüber entwischen lassen. Auf die Nachricht dieses Verbrechens hin eilte der Mutessarif höchstselbst im Wagen aus Marasch herbei. Die Münadirs, die Austrommler, durchzogen mit

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