Die Vinetaner - Rusana
Denn warum sonst wollte er weder sie noch Marco sehen? Gab er den beiden die Schuld daran, dass er nun ein Vinetaner war?
„Chris, es ist meine Schuld, dass du verletzt wurdest und Egbert dich verwandeln musste. Ich habe diesen elendigen Fluch ausgesprochen.“
„Ich weiß. Ich ... ich möchte jetzt alleine sein. Bitte.“
Ruven erhob sich zögernd von dem Stuhl, auf dem er saß.
„Wir sollten später noch einmal reden. Wenn es dir besser geht und du nicht mehr so durcheinander bist.“
Christian drehte bewusst seinen Kopf weg. Er wollte jetzt nicht mehr mit Ruven sprechen, wollte, dass er endlich ging. Er wusste, er war unhöflich, aber das war ihm im Moment egal. Als die Tür sich leise schloss, atmete er erleichtert auf. Es war besser für alle, wenn er möglichst schnell von hier verschwand. Wie er damit umgehen sollte, dass er nun viel länger lebte, als seine Tante und sein Onkel, als sein Freund Tim und alle anderen, die er kannte, wusste er nicht. Was sollte er ihnen sagen? Etwa: ‚Hi, ich bin jetzt ein Vinetaner? Das ist so etwas wie ein Vampir. Also wundert euch nicht, wenn ich hin und wieder knurre, Blut trinke und nur im Schneckentempo altere!?.’ Sein Leben würde einsam werden ohne Rusana, ohne jemanden an seiner Seite, der zweitausend Jahre alt werden konnte. Mit einem frustrierten Seufzer setzte Christian sich auf, wartete, bis der Schwindel, der ihn überfiel, sich legte, und schwankte unsicher auf eine Tür zu, hinter der er das Badezimmer vermutete. Er sehnte sich nach einer Dusche und hoffte, dass sein Kreislauf nicht schlappmachen würde. Außerdem hatte er Durst. Allerdings nicht auf Blut, sondern auf Wasser, wofür Christian dankbar war. Sein Körper benötigte nach wie vor normale Nahrung und das war wenigstens etwas Vertrautes in seinem neuen Leben.
Ruven bekam den nächsten Schock, als er auf den Flur hinaustrat. Neben der Tür zu Christians Zimmer lehnte Rusana an der Wand. Sie war kreidebleich und Tränen rannen über ihre Wangen. Es war offensichtlich, dass sie das Gespräch mit angehört hatte. Ruven wollte sie trösten und streckte die Hand nach ihr aus, doch Rusana schlug sie weg und rannte davon. Ruven unterdrückte den Impuls, ihr nachzulaufen, denn sie würde ihn jetzt nicht an sich heranlassen. Er würde Flora zu ihr schicken. Vielleicht konnte sie ihr Trost spenden. Mit schwerem Herzen rief Ruven nach Dr. Kensit und bat ihn erneut, Christian nicht aus den Augen zu lassen. Da dieser alleine sein wollte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Videokameras einzuschalten, die im Krankenzimmer angebracht waren. Solange nicht ausgeschlossen war, dass Christian oder Marco noch in Gefahr schwebten, wollte Ruven sie nicht unbeobachtet lassen.
20. Überraschung
Christian erwachte vom Zwitschern der Vögel, das er als ungewöhnlich laut empfand. Er blickte zum Fenster, durch das die ersten Sonnenstrahlen des Morgens fielen. ‚Vampir!’ , schoss es ihm durch den Kopf. ‚Du bist jetzt ein Vampir und hörst besser als vorher!’ Nach dem gestrigen Duschen war er müde ins Bett zurückgewankt und hatte trotz seiner Aufgewühltheit bis jetzt geschlafen. Das fand er erstaunlich. Wie viel Ruhe benötigte sein Körper noch? Seine Gedanken wurden unterbrochen, als es an der Tür klopfte und ein Arzt in das Zimmer trat.
„Guten Morgen. Ich bin Dr. Kensit.“
Christian wollte den Gruß erwidern, doch statt eines Wortes drang ein tiefes Knurren aus seiner Kehle, das ihn bis ins Mark erschreckte. Blut! Auf einem Tablett, das Dr. Kensit trug, stand, außer Kaffee, Brötchen, Marmelade, Wurst und Käse auch ein Glas gefüllt mit Blut und verströmte einen berauschenden Geruch. Christians Fangzähne schossen schmerzhaft aus seinem Kiefer und er hielt sich beschämt eine Hand vor den Mund. Er musste all seine Willenskraft zusammennehmen, um nicht mit einem Satz aus dem Bett zu springen und sich auf das Blut zu stürzen. Konnte man ihn überhaupt unter Menschen lassen? Mutierte er gerade zu einem Ungeheuer?
Dr. Kensit lächelte ihn beruhigend an:
„Keine Sorge. Jeder neugeborene Vinetaner reagiert so auf Blut. Das bekommen Sie noch in den Griff.“
Er reichte Christian das Glas, das dieser gierig bis auf den letzten Tropfen leerte. Er wartete einen Moment, und genau wie am Tag zuvor, ließ seine Gier nach.
„Wie oft muss ich Blut zu mir nehmen?“
„Normalerweise nur ein Mal in der Woche. Aber damit Ihre Verletzungen vollständig heilen können, müssen Sie auch morgen und übermorgen
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