Die Violine des Teufels
internationale Karriere als Konzertgeigerin fortzusetzen. Am 20. Oktober 1949 gab sie in der Pariser Salle Pleyel eine Vorstellung mit dem ahnungsvollen Titel Concert des adieux, Abschiedskonzert. Eine Woche später bestieg sie ein Flugzeug, das sie über den Atlantik nach New York bringen sollte.
An Bord dieses Flugzeugs, einer Lockheed Constellation der Air France, befanden sich achtundvierzig Passagiere und Besatzungsmitglieder, darunter auch Jean Paul Neveu, Ginettes Bruder, ein talentierter Pianist, der seine Schwester bei ihren Konzertreisen in der Regel begleitete. Ebenfalls an Bord war der Ex-Boxweltmeister im Mittelgewicht Marcel Cerdan, der in die Vereinigten Staaten reiste, um sich den Titel zurückzuholen, den Jake LaMotta ihm gerade erst abgenommen hatte. Cerdan war damals gerade in aller Munde, weil er trotz Ehefrau und drei Kindern eine aufsehenerregende Affäre mit der Sängerin Edith Piaf hatte.
Das Flugzeug startete am 27. Oktober 1949 um 20.05 Uhr. Auf den Azoren war eine kurze Zwischenlandung vorgesehen. Um 1.41 Uhr morgens meldete die Constellation dem Kontrollturm in Vila do Porto auf der Insel Santa Maria, die geschätzte Ankunftszeit sei 2.45 Uhr. Später korrigierte sie das auf 2.55 Uhr. Um 2.51 Uhr meldete das Flugzeug dem Tower, man befinde sich in dreitausend Fuß Höhe und habe Sichtkontakt mit der Landebahn. Der Flugkapitän nahm die üblichen Instruktionen für die Landung entgegen, aber danach meldete das Flugzeug sich nicht mehr.
Wenige Minuten später traf die Nachricht ein, die Constellation sei am Monte Redondo zerschellt, einem Berg auf der Insel São Miguel, einer anderen Azoreninsel.
Man schrieb menschlichem Versagen die Schuld an dem Unfall zu. Überlebende gab es keine.
Bald nach dem Absturz kam das Gerücht auf, die Geigerin Ginette Neveu habe noch im Tod ihre wertvolle Stradivari umarmt. Von dem Instrument wurden allerdings am Absturzort keinerlei Spuren gefunden.
Lupot wusste, warum das so war, er hatte die Geschichte aus dem Mund von Neveus Geigenbauer, Étienne Bernardel, gehört.
Bernardel, der noch lebte und sich ausgezeichneter Gesundheit erfreute, war einer der bedeutendsten Instrumentenbauer seiner Zeit. Die renommiertesten Solisten vertrauten auf ihn, von Anne-Sophie Mutter bis hin zu Yo-Yo Ma; zuvor hatten bereits Pablo Casals und Yehudi Menuhin ihn für die Betreuung ihrer kostbaren Arbeitsgeräte ausgewählt.
Lupot besuchte ihn regelmäßig. Der 1925 in Mirecourt, der »Stadt der Geigen«, wie die Franzosen sie nennen, geborene Bernardel war mittlerweile zu alt für Präzisionsarbeiten, doch er kam regelmäßig in seine Werkstatt, um die Arbeit der vier Spezialisten zu koordinieren, die die eingehenden Aufträge ausführten.
Bernardel war überzeugt, dass jede Geige, gleichgültig wie gut sie war, sich der Persönlichkeit des Geigers anpassen musste. Deshalb ging er immer zuerst in den Konzertsaal, um seine Kunden spielen zu hören, ehe er sich an ihren Instrumenten zu schaffen machte. Falls ein Konzertbesuch nicht möglich war, bat er die Geiger, in seine Werkstatt zu kommen und ihm dort vorzuspielen, um herauszufinden, welche Veränderungen ihrer persönlichen Spielweise angemessen waren.
Eine der Geschichten, die Bernardel am häufigsten erzählte, war die über Ginette Neveus Geige. Auf ausdrücklichen Wunsch hatte der Geigenbauer ihr, irgendwann in den dreißiger Jahren, den besten und sichersten Geigenkasten der damaligen Zeit gebaut und dafür über dreitausend Dollar in Rechnung gestellt. Die Außenseite war mit feuerfestem Material überzogen, und der Kasten hielt einem Druck von Hunderten von Kilogramm stand. Das Innere war mit feinstem italienischem Samt ausgeschlagen. Der Kasten war außerdem mit zwei verschiedenen Thermometern ausgestattet – eines mit der Celsius- und eines mit der Fahrenheitskala –, und überdies mit einem Feuchtigkeitsmesser, einem Luftbefeuchter sowie einer Beleuchtung für jedes einzelne Fach. Da man bei der Durchsuchung der Flugzeugtrümmer weder Geige noch Geigenkasten hatte finden können, war Bernardel überzeugt, dass die Geige während der Bergungsarbeiten gestohlen worden war.
Doch das war noch nicht alles. Einige Monate zuvor hatte Bernardel Lupot etwas noch Erstaunlicheres erzählt: Bei der Fernsehübertragung eines Konzerts von Ane Larrazábal in der Pariser Salle Gaveau hatte eine der Kameras eine Detailaufnahme des Kopfs der Stradivari gezeigt, und Bernardel hatte die Geige wiedererkannt –
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