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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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hundertmal verdient hätte? Einen Menschen, der sie liebte? Antonietta strich ihrer Tochter übers Haar und blickte auf den Schlüssel vor sich. Ganz Montesecco wartete gespannt auf ein Wort von ihr.
    Es gibt ganz unterschiedliche Arten von gespannter Stille. Es gibt die Trommelwirbelstille, in der ein Hochseilartist Fuß um Fuß nach vorne setzt, es gibt das atemlose, Sekunden zerdehnende Bangen, bevor ein Sprengmeister das Zündkabel einer Splitterbombe kappt, es gibt das lüsterne Lauern der Journalisten, wenn der Ministerpräsident mit starrer Miene zu einer überraschend anberaumten Ansprache an die Nation vor die Mikrofone tritt, es gibt den lächelnden Moment vor dem unmerklich verzögerten Jawort der Braut. Es gibt gespannte Stille im weiten Stadionrund, wenn der Schütze zum entscheidenden Elfmeter anläuft, es gibt gespannte Stille in überfüllten Luftschutzbunkern und in steckengebliebenen Fahrstühlen.
    In jeder dieser Situationen, an all diesen Orten klingt diese Stille anders, läßt unterschiedlichste Klangfärbungen, Ober- und Untertöne mitschwingen, die allein von dem abhängen, was die Anwesenden ihr an Hoffnungen und Ängsten, an Gedanken und Gefühlen beimischen, und deren einzige Gemeinsamkeit darin liegt, daß eine wichtige Entscheidung unmittelbar bevorsteht.
    In der Pfarrkirche von Montesecco mußte entschieden werden, ob ein ungeheures Verbrechen nachträglich gerechtfertigt oder ein Mensch hingerichtet werden sollte, und die Entscheidung lag auf den schmalen Schultern einer Frau, die ein Kind auf dem Arm trug und ein zweites an sich preßte. Sie war blaß, hatte tiefschwarze Augen, auf deren Grund sich Verlorenheit krümmte. Mit dem Mann, den sie geheiratet hatte, hatte sie mehr schlecht als recht zusammen gelebt. Nach seinem Tod hatte sie Dinge über ihn erfahren, daß sie sich fragen mußte, ob sie ihn je gekannt hatte. Doch er war ihr Mann gewesen.
    Ihre Stimme zitterte kaum, als sie sagte: »Ich hasse dich für das, was du getan hast, Paolo Garzone, und ich weiß nicht, ob ich dir irgendwann einmal verzeihen werde. Das ist alles, was ich sagen kann. Behalte deine Hoffnung, oder begrabe sie! Versuche dein Leben zu retten, oder wirf es weg! Das ist deine Entscheidung. Ganz allein deine. Triff sie, und laß mich mein Leben leben!«
    Sie setzte Sonia ab, nahm den Schlüssel von der Brüstung und drehte ihn zwischen ihren Fingern. »Du hast Giorgio eingesperrt, bis er tot war. Ich möchte nicht gleiches mit gleichem vergelten. An deinem Blut bin ich unschuldig. Aber verlange nicht mehr von mir, keine Vergebung, kein Verständnis, keine Hilfe!«
    Antonietta schleuderte den Schlüssel ins Kirchenschiff hinab. Er klirrte auf dem Steinboden auf und schlitterte nach vorn, während der wütende Stoß einer Viper ihn verfehlte und eine andere sich nervös in Angriffshaltung zusammenrollte. Auf der Höhe der vordersten Bankreihe,nicht weit vom Fußende der Särge entfernt, blieb der Schlüssel liegen. Es war ein großer Bartschlüssel, dessen Metall von den Jahren geschwärzt war. Antonietta tastete nach den Händen iher Töchter.
    »Kommt!« sagte sie, und ohne einen Blick zurückzuwerfen, zog sie die beiden Mädchen zur Seitentür der Empore, die ins alte Pfarrhaus hinüberführte. Schweigend folgten ihr die anderen.
    Obwohl die Piazzetta schon im Schatten lag, schlug draußen die Hitze unbarmherzig auf sie ein. Der sinkende Sonnenball setzte die gegenüberliegenden Hügel in Flammen. Kein Lufthauch regte sich, und in der Ferne löste das Flimmern der Luft die Grenze zwischen Himmel und Meer auf.
    Ihre Worte hatten harsch geklungen, doch er hatte schon verstanden, was sie bedeuten sollten. Nein, er machte sich nichts vor. Er wußte besser als jeder andere, was sie wirklich wollte. Besser vielleicht sogar als sie selbst. Außerdem waren Taten wichtiger als Worte. Und die sprachen eine klare Sprache: Sie hatte für ihn entschieden. Sie hatte ihn frei gehen lassen. Sie wollte nicht, daß er starb. Natürlich konnte sie nicht offen sagen, daß sie auf ihn warten würde. Nicht in Gegenwart der anderen.
    Und sie hatte ja auch gelitten. Er hatte ihr Schmerz bereitet. Das tat ihm aufrichtig leid. Dafür hätte er sich unbedingt entschuldigen müssen, aber das würde er nachholen. Und sei es erst in fünfzehn oder zwanzig Jahren. Er hatte es nicht eilig. Es genügte ihm zu wissen, daß sie auf ihn wartete. Trotz der verfluchten Schmerzen in seinem Körper fühlte er sich leicht. Wie eine Vogelfeder. Wie

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