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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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erschöpft inne. Unkontrollierbares Muskelzittern wogte durch seinen massigen Körper. Seine Augen suchte Antoniettas Gesicht auf der Empore. Er war ein Mörder, doch es gab etwas, das ihm heilig war. Jemanden, den er nie verraten würde. Dann schon lieber sich selbst. Dann schon lieber das Geheimnis um die Mordtat, das er so lange mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte.
    Antonietta war sein ein und alles, und doch hatte er es nie geschafft, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Nicht, als Giorgio noch lebte, nicht nach seinem Tod und nicht einmal jetzt, da alles verloren und nichts mehr zu verlieren war. Es gibt Momente im Leben eines Menschen, in denen sich zeigt, welche seiner Ängste am tiefsten sitzt. Bei Paolo Garzone war es nicht die Angst vor der Strafe für ein Verbrechen, nicht vor den Vipern, nicht einmal vor dem Sterben, es war die Angst, das zu entblößen, was ihm mehr bedeutete als alles andere, und nur ein spöttisches Lachen zu hören, wenn er sagte: Ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt.
    Es war ihm leichter gefallen, einen Mord als seine Liebe zu gestehen.
    An der untersten Altarstufe schlängelten sich zwei Vipern entlang, und eine dritte schob gerade den Kopf nach oben, um die Stufe vorsichtig zu überwinden. Die Schlangen hatten ihre Scheu abgelegt, sie machten sich auf, die Kirche zu erkunden. Überall züngelte es hervor, schoben sich schuppige Bänder geräuschlos über den Stein.
    »Beißt ihn! Reißt ihm das Fleisch heraus! Freßt ihn bei lebendigem Leib!« zischte Assunta in den Kirchenraum hinab. Niemand achtete auf sie. Denn obwohl Paolo esvermieden hatte, Antonietta direkt anzusprechen, hatte sich sein Geständnis doch nur an sie gerichtet. Ohne daß darüber debattiert werden mußte, war damit die letzte und wichtigste Rolle in diesem Prozeß vergeben worden. Der Angeklagte hatte sich selbst die Richterin erwählt, die das Urteil über ihn sprechen sollte, und niemand stellte seine Wahl in Frage.
    Lidia Marcantoni nestelte den Kirchentürschlüssel von ihrem Schlüsselbund und reichte ihn ihrem Bruder. Franco gab ihn stumm an Costanza weiter, und die legte ihn vor Antonietta auf der Balustradenbrüstung ab. Antonietta drückte Sonia fester an sich.
    Paolos Gesicht war schmerzverzerrt. Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln und sagte: »Ich müßte lügen, wenn ich behaupten würde, daß es mir leid tut. Wenn ich noch mal da draußen auf dem Feld stünde, würde ich genauso handeln. Es war meine große Chance. Deine Kinder brauchen einen Vater, Antonietta. Sie mögen mich, und du hättest dich an mich gewöhnen können. Wenn ich ein paar Jahre Zeit gehabt hätte ...«
    Wie ein in Tagträumen verlorenes Kind wiegte Paolo den Oberkörper vor und zurück. Unter ihm zogen die Vipern ihre Bahnen. Nach einem geheimen Plan durchstreiften sie das Kirchenschiff, schienen sich kurz zuzuwispern, wenn sich ihre Wege kreuzten, um dann wieder einsam und allein weiterzuzüngeln.
    »Ich habe Giorgio umgebracht, und dafür gehe ich ins Gefängnis. Fünfzehn Jahre wie Vannoni, zwanzig, wie viele auch immer. Aber wenn ich dann herauskomme ...« Paolo atmete schwer. »Du mußt nicht ja sagen, Antonietta, du mußt gar nichts sagen, du darfst mir nur nicht die Hoffnung nehmen, denn dann ...« Paolo begann sich mühsam das Hemd aufzuknöpfen. »... denn dann werde ich Vipern fangen. Ich werde sie an meine nackte Haut drücken. Ich werde sie liebkosen. Ich werde sie küssen. Ohne die Hoffnung kann ich nicht leben.«
    Er war der Mörder ihres Mannes. Er hatte Giorgio umgebracht, weil er sie für sich zu gewinnen hoffte, und nun machte er die Witwe zur Richterin über Leben und Tod. Paolo hatte noch nicht aufgegeben, er setzte alles auf eine Karte, indem er Antonietta vor eine schreckliche Alternative stellte. Sollte sie ihm – und sei es auch nur durch ihr Schweigen – seine verzweifelte Hoffnung lassen? Müßte Paolo, und mit ihm der Rest der Welt, das nicht so verstehen, daß sie ihn möglicherweise irgendwann einmal lieben könnte? Würde sie damit nicht seine Besessenheit rechtfertigen, sein Motiv, die Mordtat selbst entschuldigen? Müßten da nicht eher die Vipern auffliegen und die Sonne vom Himmel beißen, auf daß ewige Nacht herrsche?
    Oder sollte sie ihm sagen, daß er ein Ungeheuer war, für das sie auf immer nur Grauen empfinden würde? Konnte sie sich wirklich sicher sein, daß sie ihm nicht irgendwann einmal verzeihen würde? Hatte sie das Recht, einen Menschen zu töten, auch wenn er es

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