Die Vipern von Montesecco
haben, woher diese kommen sollte.
»Es brennt wie Feuer den Schenkel hoch«, stöhnte Paolo. Er krümmte sich über dem angezogenen Bein.
»Ein paar ehrliche Sätze, und fünfzehn Minuten später bist du im Krankenhaus«, sagte Franco.
Mit einem Ruck richtete Paolo den Oberkörper auf. Er brüllte: »Ich habe es nicht getan, verdammt noch mal!«
»Du solltest deine Kraft nicht verschwenden«, sagte Costanza.
»Und nicht fluchen«, sagte Lidia.
Paolo schnellte in die Hocke hoch. Mit weit aufgerissenen Augen folgte er einer Vipera Comune, die an der Kante der untersten Altarstufe entlangzüngelte und an der Nordwand der Kirche im Halbdunkel verschwand.
»Und wenn er es wirklich nicht getan hat?« fragte Ivan Garzone.
»Hast du nicht mitbekommen, was er uns alles vorgelogen hat?« fragte Gianmaria Curzio.
»Warum hätte er Giorgio umbringen sollen? Aus welchem Grund?« fragte Ivan. Er war Paolos Cousin. Sein einziger Blutsverwandter im Dorf. Wahrscheinlich hätte er sich lieber im Hintergrund gehalten, doch er konnte es nicht zulassen, daß in diesem ungewöhnlichen Prozeß nur Geschworene und Ankläger zu Wort kamen. Ein Pflichtverteidiger war nötig. Auch wenn Ivan eine ganze Weile gebraucht hatte, um zu kapieren, daß nur er dafür in Fragekam, so schien er jetzt entschlossen, seine Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen.
Er sagte: »Angelo Sgreccia hätte ein Motiv gehabt, Catia auch, Matteo Vannoni sowieso, und sogar bei Antonietta wäre es nachvollziehbar, daß sie ...«
Ivan brach ab, blickte zu Antonietta Lucarelli hinüber, die sich nicht rührte, nur starr nach unten sah, auf Paolo Garzone, auf die durch ein Wunder geadelte Christusfigur, auf den Sarg, in dem sich eine Viper an die eingefallene Wange ihres toten Mannes kuschelte, das war schwer zu entscheiden.
Zögernd fuhr Ivan fort: »Entschuldige, Antonietta, ich wollte nicht ... ich wollte nur sagen, daß Paolo im Unterschied zu anderen kein Mordmotiv hatte. Er ...«
»Doch«, sagte Milena Angiolini. Sie strich sich das blonde Haar zurück.
»... er war Giorgios Freund, er hat unter seinem Tod gelitten und sich dafür eingesetzt, den Fall zu klären. Und hat er sich nicht fürsorglich um die Hinterbliebenen gekümmert, um Giorgios Kinder, um ...?«
»Um Antonietta«, sagte Milena Angiolini. »Eben!«
»Was soll das heißen?«
»Er liebt Antonietta«, sagte Milena.
»Unsinn!« sagte Ivan.
»Ich weiß, wie sich ein Mann benimmt, wenn er heimlich in eine Frau verknallt ist«, sagte Milena. Es klang weder kokett noch angeberisch. Es galt, einen Mord aufzuklären, und wer konnte, mußte sein Teil dazu beitragen. Milena Angiolini zog nun mal die Blicke der Männer auf sich. Sie hatte ihre Erfahrungen gemacht. Sie wußte, wie sich Gefühle äußerten, auch wenn sich jemand nicht offen dazu bekennen wollte.
»Paolo hat nie ...«, sagte Ivan.
»Er hat Antoniettas Nähe beharrlich gesucht«, sagte Milena, »und peinlich darauf geachtet, unverfängliche Gründe dafür zu finden. Auch wenn zehn Leute gleichzeitigredeten, entging ihm kein Wort und kein stummer Wunsch Antoniettas. Wann immer es ging, blickte er sie an, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß niemand auf ihn achtete. Sein Aussehen war ihm plötzlich so wichtig, daß er sich neu eingekleidet hat. Er versuchte sich unentbehrlich zu machen. Als Beschützer, als tatkräftiger Freund, als einer, der Antoniettas Sorgen versteht und sich zu eigen macht. Nur um Antonietta zu beeindrucken, kümmerte er sich liebevoll um ihre Kinder und ...«
»Er war hilfsbereit und zuvorkommend«, sagte Marta. »Und vielleicht hat er Antonietta heimlich verehrt.«
»Deswegen soll er Giorgio umgebracht haben?« fragte Ivan.
»Das weiß ich nicht«, sagte Milena. »Ich weiß nur, daß er hoffnungslos in Antonietta verliebt ist. Und zwar nicht erst seit gestern.«
»Es ist ein Motiv«, sagte Vannoni. Es war mehr als ein Motiv. Eine unerfüllte große Liebe, darin steckte alles. Hoffnung und Verzweiflung, Blindheit und Risikobereitschaft, Leidenschaft, wildes Begehren und auch der Haß auf das Schicksal, die rasende Verachtung für den unverdient begünstigten Nebenbuhler, der wie Dreck behandelte, was man selbst für immer und ewig auf Händen getragen hätte. Das wenigstens schwor man sich, und der Schwur fiel ganz leicht, weil es nicht denkbar schien, daß sich dies einmal ändern könnte, und doch lag dann irgendwann der geliebte Körper nackt und tot auf einem blutüberströmten
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