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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Stimme, irgend etwas. Doch der wahrscheinlichste Ort, das Verlies im Bergfried, schien überhaupt kein Fenster zu haben.
    »Und nun, Mutter Hilde, was nun? Ich kann wohl kaum wie König Richards Troubadour vor jedem Fenster singen. Damit würde ich mich um diese Jahreszeit verdächtig machen, wenn ich da im Morast herumstehen und in Kellerfenster hineinsingen würde.«
    »Es wird sich schon etwas ergeben. Doch da die Rede gerade von Herumschnüffeln ist, was ist eigentlich aus der Weißen Dame geworden, die den Schühchen folgen wollte?«
    »Sie hat gesagt, die Überfahrt wäre ihr gar nicht bekommen, und dann wurde sie ganz durchsichtig und blaß und löste sich auf. Wenn einen selbst die Gespenster schon verlassen, Mutter Hilde, dann sitzt man weiß Gott in der Tinte.«
    »Damit könntest du recht haben, Margaret, obwohl ich es noch nicht von diesem Standpunkt aus betrachtet habe.« Doch genau in diesem Augenblick stöberte uns eine der Gesellschafterinnen der Gräfin, eine große, dunkelhaarige Dame mit einer grotesken, zweigeflügelten Haube draußen auf den Stufen zum großen Palas auf, wo wir standen und den matschigen Burghof betrachteten.
    Sie redete mich in verständlichem Französisch an, das jedoch einen eigentümlichen Akzent hatte.
    »Ist die Frau dort bei Euch die berühmte Meisterin der Kräuterarzneien, la Mère Hilde?«
    »Freilich«, erwiderte ich, »aber woher wißt Ihr das?«
    »Wir haben von Eurem Beichtvater, Bruder Theophilus, gehört, daß sie bei der noblesse in England sehr gefragt ist. Er sagt, sie hat sogar schon die Königin behandelt. Könnt Ihr für uns mit ihr reden?« Oh, schlauer Malachi, er hat etwas vor, dachte ich. Und so entspann sich eine dreiseitige Unterhaltung, durch die Mutter Hilde erfuhr, daß die Gräfin an vielen Gebresten litt und ihr Sohn sich nicht wohl fühlte und man Mutter Hilde bat, ihr aufzuwarten.
    Und ehe wir uns versahen, führte man uns in einen großen, runden Raum mit steinernen Wölbungen, den schöne, seidene Wandbehänge zierten. Ein großes Feuer brannte, und das Zimmer war überhitzt und verräuchert, denn das Holz war zu feucht. Am Feuer saß ein bleicher, matter kleiner Junge von zehn Lenzen ganz in eine Pelzdecke gehüllt. Auf seinem dünnen, bräunlichgelben Haar thronte ein großes pelzgefüttertes, hellrotes Barett. Er hatte die sonderbaren, wulstigen roten Lippen seines Vaters, die bei ihm jedoch nur noch ein verblichenes Gelblichrosa zeigten und in einem spitzen, kränklichen Gesichtchen saßen, das an ein nacktes Eichhörnchen erinnerte und ihn seltsam entartet und unnatürlich aussehen ließ. Und wie bei einem Eichhörnchen schienen seine bangen Äuglein fast seitlich am Schädel zu sitzen. Mit dem trübseligen, spitzen Gesicht und dem fliehenden Kinn war er fast das vollendete Ebenbild seiner Mutter, die sich über seinen Stuhl beugte und ihm bei einem Schachspiel mit seinem Lehrer zuschaute. Als sie uns eintreten sah, löste sie sich aus der Gruppe und gab einer anderen Gesellschafterin mit einem ebenso albernen Kopfputz wie die erste Anweisung, uns zu ihr zu führen.
    »Ich benötige Heilmittel, Arzeneien«, sagte sie, und ihre Stimme wurde dabei zu einem kläglichen Greinen. Sie faßte nach dem juwelenbesetzten Kopfputz, der oben auf ihrem fahlen Rattengesicht saß. »Ich habe Kopfschmerzen, schreckliche Kopfschmerzen. Sie machen mich beinahe blind. Ihr heiligen Pilgerinnen, Ihr müßt mir helfen. Und meine Verdauung. Schmerzen, Schmerzen, versteht Ihr? Ich bin schwach. Und mein Sohn – da seht nur –, er muß kräftiger werden. Er kann diesen Raum nicht verlassen. Er kann nur im heißesten Sommer reisen. Findet ein Heilmittel für ihn, oder heilt ihn mit Euren Gebeten, und ich will meinen Mann bitten, Euch reich zu entlohnen. Ihr zieht ins Heilige Land – nein, nach Compostela, ja? beritten wie Königinnen. Jagdhunde, Reisige, Geld. Alles ist Euer, wenn Ihr ihn so kräftig wie andere Kinder machen könnt.«
    »Kennst du den Grund, Mutter Hilde?« fragte ich auf Englisch.
    »Sieh dir ihr Wappen auf der Wand an, Margaret. Ich kann zwar keine Wappen lesen, aber ich sehe wenigstens vier Felder mit ziemlich ähnlichen Symbolen. Die Hauptursache ist schwaches Blut. Hohe Familien können sich eine Erlaubnis vom Papst zur Heirat mit sehr nahen Verwandten leisten – sie heiraten zu oft untereinander, und so wird ihr Blut dünn, aber ihre Börse dick. Der andere Grund ist das Böse in diesem Haus. Es saugt diesen Unschuldigen die Kraft aus,

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