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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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alles! Es floß aus ihm heraus wie Wein aus dem Faß! Und fast alle satirisch. Beim Barte des heiligen Dunstan, ein paar waren wirklich lustig! Einmal hat so ein hochwohlgeborener Troubadour ein paar gedungene Schurken ausgeschickt, die sollten ihn auspeitschen, doch wir haben ihn aus der Hintertür hinausgeschmuggelt, wo er in der Hintergasse zum Gedenken an das Ereignis ein Gedicht machte. Wie ich höre, wird es immer noch in übel beleumdeten Studentenkneipen gesungen. ›Warum Dichter geflügelte Füße brauchen‹ hieß es. Dann beschloß er, sich in der Wissenschaft einen Namen zu machen – doch es ergab sich, daß er statt dessen seinen Namen in Verruf brachte. Das war denn doch entmutigend, und da beschloß er, der Ruf, Gott zu sehen, wäre an ihn ergangen, und er wurde zu einem erstklassigen Langweiler. Also, wie er sich mit dir einlassen konnte, das geht über mein Begriffsvermögen – ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein Mann mit einem Fünkchen Verstand, geschweige denn einer wie er, deine Memoiren aufschreibt. Entschuldigung, aber es will mir nicht in den Kopf, daß du Gedanken haben könntest, die das Aufschreiben lohnen.«
    »Genau das hat er auch gesagt.«
    »Und du hast natürlich geantwortet, daß er unrecht hat.«
    »Ja, selbstverständlich.«
    »Natürlich, selbstverständlich«, seufzte Bruder Malachi. »Es war also eine himmlische Eingebung.«
    »Malachi, wenn du so plapperst, hast du etwas im Sinn. Was genau ist das?« kam Mutter Hilde dazwischen.
    »Also, ich glaube nicht, daß er unter dem Bergfried ist.«
    »Dann habt Ihr ihn gefunden!« Mein Herz tat einen hoffnungsfrohen Satz.
    »Noch nicht ganz. Aber heute bin ich endlich unter den alten Turm gekommen, doch dort lagern sie fast ausschließlich Pökelfleisch und andere Vorräte. Ich habe ihnen gesagt, ich brauche den Schimmel vom Käse. Und dort habe ich festgestellt, daß es unter uns in dem Raum mit dem Alembik, im Neuen Turm, noch einen Keller gibt. Dort gibt es – weh mir – eine Folterkammer – ich habe einen Unseligen schreien hören, dadurch habe ich es herausgefunden – dazu ein paar große Zellen bis oben hin voller häßlicher Folterwerkzeuge und mehrere gräßliche kleine Verliese. Die sind so angeordnet, daß ständig Wasser durch sie fließt, und dort züchtet er Kröten, Skorpione und was dergleichen mehr ist. Sie sind sehr tief und haben oben ein Gitter – er läßt die Menschen einfach nackt ausziehen und zum Giftzeug hinunterwerfen. Zu diesem Zweck gibt es eine Art Flaschenzug, wohl auch, um sie wieder herauszuholen, obwohl das seit Menschengedenken nicht mehr geschehen ist. Sie sagen, die Verliese sind sehr tief, doch nicht sehr groß – an die zwei Ellen in die Breite, sagt jedenfalls Messer Guglielmo. Ich habe ihn betrunken gemacht, und da war des Redens kein Ende. Es scheint, daß ihn die Schreie bei der Arbeit stören, und er glaubt, daß ein artiste wie er für seine Mühen größerer Rücksichtnahme und einer bekömmlicheren Bleibe bedarf.«
    »Oh, Malachi, Ihr seid wunderbar; wir haben ihn gefunden!« rief Mutter Hilde. Aber ich fing an zu weinen.
    »Ach, Malachi, was für ein gräßlicher Ort. Und so kalt. Er muß tot sein. Wir sind zu spät gekommen.«
    »Komm, komm, Margaret, nur Mut. Diesen Teil habe ich mir für zuletzt aufgespart. Es scheint, daß der Graf ihm einmal in der Woche, freitags, so hörte ich, höchstpersönlich einen Besuch abstattet und sich nach seinem Ergehen erkundigt. Geht die ganzen Stufen hinunter, riecht an einer Ambrakugel und kommt so wütend wieder zurück, daß er Messer Guglielmo auf dem Weg nach oben anbrüllt. Vergangenen Freitag hat er mit der Ambrakugel nach ihm geworfen und gedroht, ihm die Hände und Füße abzuhacken, wenn er nicht schneller macht.«
    »Freitag? Das war erst vor vier Tagen.«
    »So ist es, liebes Kind. Doch nun laßt uns Pläne schmieden. Ich habe keine Ahnung, wie ich zu ihm gelangen soll, und ich bin am Ende meiner Tricks, abgesehen von einem. Wenn ich erst Gold hergestellt habe, sind wir verloren, es sei denn, wir machen uns noch in derselben Nacht auf und davon. Ich werde ihm erzählen, daß es nur bei Vollmond getan werden kann – das gibt uns Licht für die Reise bei Nacht und hält ihn noch ein Weilchen hin.«
    »Goldmachen? Du hast die ganzen Jahre gewußt, wie man Gold macht?« Mutter Hilde war entgeistert.
    »Gewissermaßen, liebes Herz. Das ist immer ein vielschichtiges Problem.«
    »Aber – als wir Geld für die Ausbesserung

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