Die Vision
Stich. Sie ergriff seine Hand.
»Mein Platz ist stets bei dir, Malachi. So habe ich es gewollt. Es gibt nichts zu vergeben.« Er sah sie an, als zehrte er von ihrer Kraft, dann holte er ein paar Mal tief Luft.
»Halte sie hin«, sagte sie. »Du weißt doch wie. Darin bist du gut. Die Zeit nutzen wir, um herauszufinden, wo sie Gilbert verstecken. Ei«, lachte sie grimmig, »Sim kann praktisch durch Wände gehen. Und du – du verstehst die ganzen Sprachen hier und hast überall auf der Burg freien Zutritt. Und Margaret und ich – also, Gott wird uns einen Weg zeigen. Das hat er früher auch schon getan. Und – Margaret – jetzt fällt mir ein, gib mir das Kästchen mit dem Ring. Du bringst es nicht übers Herz, ihn zu verschenken, und vielleicht schadet das Gift auch dem Kind. Es könnte doch sein, daß wir Verwendung dafür haben. Fixativ, fürwahr! Wir werden ja sehen, wer hier Fixativ braucht!«
Zwar behandelte man uns während der folgenden Tage gut, doch wir hatten allen Grund, mit unserem Geschick zu hadern. Tagtäglich verschwand Malachi in dem großen, geheimen Laboratorium, und Hilde hörte nicht auf sich zu sorgen, bis sie ihn beim Abendessen wohlbehalten wiedersah. Und weil wir die Sprachen hier nicht verstanden, hörten wir rings um uns nur Gebrabbel und kamen uns zuweilen vor wie im Gefängnis. Gelegentlich sprach jemand das Französisch des Nordens, und dann konnten wir uns verständlich machen. Aber wohin wir auch gingen, immer schien uns jemand zu folgen.
Nach einem Weilchen schaffte es Sim, der stets auf der Suche nach Eßbarem war, Freundschaft mit dem Küchengesinde zu schließen, indem er sich der Zeichensprache bediente und sich nützlich machte. Wir waren ganz außer uns vor Sorge, er könnte verschwinden, doch immer kam er zurück, in der Regel kaute er einen Apfel aus einem der großen Vorratsfässer und erzählte uns, was er schon wieder an Neuem entdeckt hatte. Er war es auch, der uns von den Geheimkammern und den Schreien erzählte, die man des Nachts zuweilen hören konnte, und das so beiläufig, als handelte es sich um eine Bärenhatz.
»Und dann«, sagte er und biß erneut in seinen Apfel, »dann bekreuzigen sie sich und legen übertrieben deutlich den Finger an die Lippen und ziehen ihn quer über die Kehle, so –« und schon wieder biß er zu. »Und wißt ihr auch, wie er sie bekommt? Dieser finstere, alte Ziegenbock in Schwarz läßt sie von weither holen, und wenn sie ihm ausgehen, macht der Graf des Nachts ganz in Schwarz Jagd auf sie wie ein Geist. Klopft mit dem Stiel der Peitsche – die mit dem knöchernen Totenschädel als Griff, welche er immer dabei hat – an die Türen der Bauern, und dann deutet er damit auf ein Kind, das er haben will – selbst Säuglinge in der Wiege sind nicht vor ihm sicher.«
»Wie haben sie dir das alles erzählt, das mit der Farbe und den Säuglingen, wenn sie nicht reden dürfen?«
»So«, sagte er. »Sie zeigen auf etwas Schwarzes und machen so«, und mit ein paar Gebärden schilderte er eine gestiefelte Gestalt im Umhang und von Kopf bis Fuß in Schwarz, die, von Vorreitern umgeben, ein schimmerndes weißes Pferd ritt.
»Und warum sagen sie es nicht dem Bischof? Der würde ihm die Inquisition auf den Hals schicken. Wie können so viele Kinder verschwinden, ohne daß es jemand auffällt?«
»Weil alle Angst vor ihm haben. Er kann hexen und Teufel beschwören. Bei Vollmond reitet er auf der Jagd nach Blut aus wie Satanas persönlich.« Sim fuchtelte mit den Armen, um einen wehenden Umhang anschaulich zu machen, und sprang wie ein galoppierendes Pferd herum und mußte die ganze Zeit über dieses schauerliche Bild grinsen. »Wenn ich wieder daheim bin, erzähle ich alles meinen Freunden. Ich jage ihnen solche Angst ein, daß sie auch nicht mehr wachsen, und dann bleiben wir alle gleich groß«, sagte er zufrieden und setzte sich hin, um seinen Apfel aufzuessen. Wenn Sim einen Apfel verspeist, merkt man, daß er auf der Straße aufgewachsen ist. Er verputzt ihn mit Stumpf und Stiel, so als wäre es der allerletzte.
»Du, Sim, sieh dich vor. Ich möchte nicht, daß dir etwas Gräßliches zustößt«, mahnte Mutter Hilde.
»Oh, sorgt euch nicht um mich. Ich bin zu häßlich, sagen sie. Er mag nur blonde Kinder. Außerdem bin ich flink. Lebt wohl, ich helfe jetzt beim Hühnerrupfen.«
Und Mutter Hilde und ich spazierten wohl auf und ab, insbesondere an offenen Kellerfenstern vorbei, und hofften, etwas zu hören. Einen Fingerzeig, eine
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