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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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obwohl man sie in Unkenntnis läßt.«
    »Und sagt ihr«, flüsterte mir die Gräfin auf Französisch zu, damit ihre Dienerinnen nichts mitbekamen, »ich kann keine Kinder mehr bekommen. Mein Gebieter würde mich wieder lieben, wenn ich noch ein Kind hätte. Er hat mich doch einst geliebt. Er hat mir Geschenke gemacht und vor unserer Heirat ein Gedicht auf mich geschrieben. Wenn er mich wieder liebte, würde er mich nicht so alleinlassen. Immer in diesen Räumen eingesperrt, niemals im Freien. Wir reisen auch nie mehr mit ihm. Und wenn mein Gebieter auf dieser Burg weilt, spricht er nie mit mir außer bei Tisch, wenn wir Besucher haben. Er kennt nur noch seine Geschäfte, Nacht für Nacht. Hat keine Zeit für mich. Kein Wort, kein Besuch, kein Beweis seiner Gunst. Und sein Sohn – schaut ihn Euch an! Er verhöhnt das Kind. Wenn Ihr dieses hier nicht heilen könnt, so verschafft mir ein kräftigeres, ich bitt' Euch. Die Mittel kümmern mich nicht – ich muß bei meinem Herrn wieder Gnade finden.«
    Während ich übersetzte, untersuchte Mutter Hilde das Kind und machte ta-ta-ta, und es spielte ruhig weiter Schach und schien sie nicht zu hören. Vermutlich hatten die Menschen sein ganzes Leben bei seinem Anblick ta-ta-ta gemacht.
    »Ich muß die richtigen Kräuter sammeln«, sagte Mutter Hilde, »sag ihr, daß nicht alle in ihrem Garten wachsen und daß wir außerhalb der Mauer suchen und einen Knaben haben müssen, der uns den Weg weist.« Das kleine Rattengesicht sah entsetzt aus. Und doch geschah es, daß wir bereits am nächsten Tag mit zwei bewaffneten Knechten jenseits der Mauern oberhalb des Dorfes zu den windigen Gebirgspässen wandern durften. Mutter Hilde braut wunderbare Mittel gegen Kopfschmerzen, doch das beste, für das man Weidenrinde braucht, konnte sie hier nicht herstellen, da ihr die Zutaten fehlten. Wir erkundeten die Gegend, doch Gregory fanden wir nicht, obwohl ich überzeugt war, daß er hier irgendwo versteckt wurde.
    Unterdes regten sich einige Pilger auf, daß sie vor Einsetzen der schweren, winterlichen Schneefälle nicht mehr über die Berge kamen und schickten eine Abordnung zum Grafen, der sie mit dem brutalen Hinweis abwies, fürstliche Gastfreundschaft sei weitaus besser, als zur Winterszeit die Berge nackt zu überqueren.
    Jeden Abend kehrte Malachi mit neuer Kunde aus dem geheimen, alchimistischen Laboratorium zurück.
    »Ach, gar nicht zu sagen, wie ermüdend das Nichtstun ist. Ihr kommt wenigstens an die frische Luft, aber was soll ich sagen? Unter der Erde, bei übelsten Gerüchen eingesperrt und zur Unterhaltung nichts als diesen Narrenkönig, Messer Guglielmo, und einen Haufen stummer Dummköpfe, halbnackt wie die Scharfrichter. ›Mein Gott‹, sage ich zu ihnen, ›wie könnt ihr euch nur mit Kupfergefäßen an die Große Arbeit wagen? Die verunreinigen doch den Drachen. Fort mit ihnen. Ich will Glas, ausschließlich Glas. Eures ist nicht dick genug.‹ Darauf macht Messer Guglielmo ein Getue wie ein altes Weib, und der Glasbläser spielt den Gekränkten, und es dauert ein paar Tage, bis alles seine Richtigkeit hat. Darauf nahm ich die größte Aludel und stellte Weingeist her. Ich habe sie so betrunken gemacht, daß sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. ›Das Lebenselixier‹, so sage ich, »richtet Eurem Herrn aus, er soll davon jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Dosis einnehmen. Es verlängert sein Leben um hundert Jahre.‹ Das haben sie getan. Er ist heruntergestiegen und hat mir zugesehen. ›Pfui, unmögliche Gerätschaften‹, sage ich zu ihm. ›Ich brauche Auripigmentum; ohne das kann ich nicht arbeiten.‹ Da wurde er ausfallend. Er ist, glaube ich, hochverschuldet und braucht dringend Geld. ›Meine Gerätschaften sind die besten in sechs Königreichen‹, sagt er, und seine bedrohlichen Hängebacken zittern, ›was nun Auripigmentum angeht, wenn Ihr nicht ohne das auskommen könnt, so reiße ich Euch die Fingernägel einem nach dem anderen aus, bis Ihr es könnt.‹ Uff. Kultiviert, pa!« Bruder Malachi spuckte auf den Boden. »Und beim Mahl soll mir das Essen schmecken, wenn seine Spielleute diese Scheußlichkeiten singen, die er Verse nennt. Wahrlich, Gilbert konnte selbst stockbetrunken bessere machen. Sogar im Schlaf könnte er noch bessere machen.«
    »Gregory hat betrunken Verse gemacht?«
    »Natürlich, du Dummchen. Man hat ihn in jeder Schenke von Paris bis London gefeiert. Er konnte aus dem Ärmel in jedem Stil dichten. Rondels, Sonnette,

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