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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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sich mit dem Zug von den Fenstern, daß die Flammen der Kohlebecken tanzten und flackerten. Doch die Räume waren eine anständige Unterkunft und dicht bei den Räumen von Lady Isolde, der Frau des Grafen, und seinem jungen Sohn und einzigen Erben gelegen. Mir kamen sie ein wenig zu gut für Pilger vor, auch wenn sie nach Meinung der hoffärtigeren Reisegenossen kaum den Ansprüchen genügten.
    »Sieh nicht so verdrießlich drein, Margaret«, sagte Bruder Malachi beim Anblick meiner besorgten Miene. »Alles wird wieder gut – warte nur ab. Es hat alles so sein sollen – und bald bist du wieder fröhlich.«
    »Da, Malachi, hörst du das?«
    »Was?«
    »Ein Summen wie von einer Fliege?«
    »Eine Fliege? Um diese Jahreszeit? Äußerst seltsame Fliegen haben sie in diesem Teil der Welt.«
    Ich legte Stab und Bündel ans Fußende eines der Betten hinter dem Wandschirm. Dann winkte ich Mutter Hilde stumm herbei, fort von den neugierigen Blicken der Männer.
    »Hör mal, Mutter Hilde«, flüsterte ich und zog das Brennende Kreuz aus seinem Versteck. Als ich es ihr hinhielt, wurde das wimmernde Summen noch lauter.
    »Du lieber Gott«, flüsterte sie, »es summt ja.«
    »Und ganz warm ist es auch«, gab ich im Flüsterton zurück. »Es wird schlimmer, wenn ich in die Nähe des Grafen komme. Das kann nur an der Luft liegen, Mutter Hilde. An diesem Ort ist sogar noch die Luft böse.«
    »Du hast recht, Margaret.« Mutter Hilde sah sehr ernst aus.
    »Warne Bruder Malachi, Hilde, aber laß es nicht diese Plaudertasche Bruder Anselm wissen.«
    Ich barg es in der hohlen Hand, und schon schwieg es und wurde kühler.
    »So, so, Frauen können wohl nicht anders, sie müssen tratschen, selbst auf Kosten des Abendessens«, verkündete Bruder Anselm etwas spitz, als wir durch die kleine Tür traten.
    »So geht es und geht es. Ach, ich weiß auch nicht, warum ich mir diese Bürde aufgehalst habe«, sagte Bruder Malachi laut. »Ich jedenfalls bin hungrig. Und wie ich höre, läßt dieser Herr selbst für so Geringe wie unseren Sim elegant auftischen. Der hat bereits einen Blick in die Küche geworfen, während ihr dahinten getrödelt habt.«
    Und tatsächlich, als wir uns umblickten, stand da Sim und sah aus, als wäre er einer Erdspalte entstiegen.
    »Auf zum Abendessen, alle miteinander. Ich befürchte, die Reisigen sind uns zuvorgekommen und haben uns die besten Plätze weggeschnappt«, sagte Bruder Malachi.
    Doch da täuschte er sich. Man hatte für uns schöne Plätze in der Mitte der Tafel reserviert. Viel zu schön für schlichte Pilger, dachte ich. Das Abendessen war elegant, und die ganze Zeit über spielten uns Musiker auf einer versteckten Galerie auf. Und weil Gesandte vom benachbarten Grafen unter uns weilten, gab es entremets , die einem die Sprache verschlugen: Ein Schiff auf Rädern ganz aus Pastetenteig, und dazu tanzten ganz golden bemalte Knaben. Nach dem Abendessen sahen wir maurische Tänze, und diese Tänzer waren ganz schwarz und wüst bemalt und mit Juwelen und Glöckchen behängt. Als dann die Schragen fortgeräumt waren, bedeckte man den Kastentisch wieder mit einem eleganten, roten Tischtuch, und zur Kurzweil der hohen Herrn aus der Reisegesellschaft des Botschafters, die zu Gast beim Grafen weilten, wurden Spiele aufgebaut. Als wir uns empfahlen, ging die Sonne bereits unter, und man hatte für den Spieltisch Kerzen geholt. Im Schein der rauchenden, gerade angezündeten Fackeln würfelten die Herren eifrig, während sich die Gräfin mit ihren Damen und pucelles auf die andere Seite des Saals zurückgezogen hatte, wo ein Damebrett aufgestellt war. Am Fuße des Tisches spielte ihnen ein Harfenist auf und sang dazu ein süßes, wehmütiges Lied, doch die Worte verstand ich nicht. Während wir uns durch fackelerleuchtete Gänge zu unseren Räumen zurücktasteten, hallten die letzten Töne des Liedes in mir nach, Töne, die beinahe genauso klangen wie das fast unhörbare Summen unter meinem Überkleid.
    Am nächsten Morgen, nicht lange nach dem Frühstück, kam der graugesichtige Dominikaner, der wichtigste Berater des Grafen, so schien es, um Malachi zu holen. Sie redeten Latein, darum verstand ich kein Wort, doch mir gefiel der Ton des Mannes nicht, obwohl es Malachi überhaupt nichts auszumachen schien. Aber er redete Malachi mit ›Theophilus‹ an und tat ehrerbietig. Und dann starrte er Sim auf eine Art und Weise an, die mir gar nicht gefiel; es sah so aus, als wollte er den Preis für ein Schwein festsetzen,

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