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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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des Daches gebraucht haben, und als –«
    »Hilde, mein Schatz. Die Suche nach dem Grünen Löwen ist nicht zum schlichten Dachausbessern gedacht. Es ist eine höhere, geistige Kraft.«
    »Eine höhere Kraft?« stotterte Hilde.
    »Oh, mein Herzblatt, ich erkläre es dir später. Es ist ein großes Geheimnis, das ich jahrelang gehütet habe, und gewißlich verdienst du es zu wissen. Doch wenn ich versage – nun ja, mir ist es lieber, du behältst den Glauben an meine Kunst.«
    »Malachi, du hast doch etwas vor.«
    »Natürlich. Habe ich etwa das Gegenteil behauptet? Bereite dich auf eine Flucht bei Vollmond vor, mein Schatz, selbst wenn wir die Mauer mit einem Enterhaken erklimmen müssen.«

    »Bei Vollmond, sagt Ihr? Aber das ist ja noch eine Woche hin. Messer Guglielmo, wißt Ihr etwas über dieses Vollmondmärchen? Ich könnte schwören, er hält mich hin.« Die tiefe Stimme des Grafen klang mißtrauisch. Messer Guglielmo jedoch hatte den Stummen den Alembik anvertraut und überließ es ihnen, die Kalzination eines Schwungs Enteneier zu überwachen, derweil er es mit seinem Herrn aufnahm. Das schwindende, winterliche Licht in dem langen, gefliesten Laboratorium war bereits durch rauchende Fackeln ergänzt worden, die in Haltern längs der kahlen Steinwände brannten. Bruder Malachi sah mitgenommen aus, wie er da auf dem kalten Fußboden zu Füßen des Grafen kniete. Er hatte in der Geheimwerkstatt des Sieur d'Aigremont an Gewicht verloren, und das nicht nur wegen des Gestanks. Messer Guglielmos Blick flackerte von seinem Gönner zu seinem Rivalen, er kämmte sich mit den Fingern den wirren, grau und schwarzmelierten Bart und überlegte dabei, was er sagen sollte.
    »Nun ja, ich kann nicht leugnen, daß er Ergebnisse vorzuweisen hat. Vorläufige Ergebnisse selbstverständlich. Aber seine Methode ist aus Leyden und auf mancherlei Weise äußerst primitiv. Er bedient sich nicht der klassischen Methode, um die Schwester des Drachen mit Silber zu koagulieren. Das dünkt mich unbedacht – ja, recht unbedacht.«
    »Unbedacht?«
    »Ja. Eindeutig. Er will nicht das richtige Fixativ verwenden, und so bleibt das Quecksilber flüssig. Und er verläßt sich – hmm – auf Methoden, die keinen höheren Beistand erfordern.«
    »Keinen Beistand? Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr diesen Narren ohne Beistand herumtrödeln laßt! Und Ihr«, wandte er sich an den Alchimisten zu seinen Füßen, »wie wollt Ihr, mit Verlaub, das Geheimnis der Geheimnisse ohne die Hilfe übernatürlicher Kräfte ergründen? Nur mit der schwächlichen Kraft des menschlichen Geistes?«
    »Mon Seigneur, wer die Kräfte der Beobachtung und Rationalität auf das Studium der Natur anwendet, kann gewaltige Umwandlungen erreichen«, antwortete Bruder Malachi schlicht.
    »Ha! Das ist ein Geständnis! Ihr habt keine Opfer gebracht! Keine mächtigen Fixative verwendet! Theophilus von Rotterdam, Ihr habt Euer Spiel mit mir getrieben. Ich will, daß Ihr Euer Verfahren heute abend abschließt, Vollmond hin, Vollmond her, und das mit dem richtigen Fixativ.« Die Wut in der Stimme des Grafen grollte bedrohlich.
    Bruder Malachis Augen blickten wie die eines gefangenen Hasen.
    »Höchst wohlgeborener Herr, es ist ein armseliger Stoff.«
    »Armseliger Stoff? Armselig? Frischeren bekommt Ihr nie wieder, Ihr zartbesaiteter, kleiner Mistkerl. Dafür lasse ich Euch die Zunge herausschneiden.«
    Bruder Malachi zitterte, doch seine Stimme blieb fest.
    »Ich habe das richtige Fixativ bei mir, doch dazu brauche ich Vollmond –«
    »Wo? Zeigt her.« Das Gesicht des Grafen dräute über Malachi wie eine Fratze aus einem Alptraum. Irgendwo, ganz nahe spürte er Messer Guglielmos Bart ängstlich zittern, denn dieser hatte ihm sein spitzes Gesicht genähert, um auch ja alles mitzubekommen. Seine Knie waren kalt und taten weh. Man sollte meinen, daß sie mich für diesen großen Augenblick wenigstens aufstehen lassen, dachte er, öffnete seine Pilgertasche und zog ein winziges Lederbeutelchen hervor.
    »Nicht darauf atmen. Es darf kein Gran verlorengehen. Zudem könnte es die Hitze Eures Atems verderben.« Tief unten in dem kleinen Säckchen glänzte ein opalisierendes, rosafarbenes Pulver.
    »Mein Gott, er hat es. Das Rote Pulver!« Selbst der giftige Messer Guglielmo wirkte einen kurzen Augenblick ergriffen.
    »Ihr habt es also die ganze Zeit gehabt. Verwendet es heute abend, sonst wünscht Ihr noch, Ihr wärt tot.«
    »Aber mein Anteil in dem Handel? Woher soll ich wissen, ob Ihr

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