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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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habe, den vergesse ich nie. An jenem Tag habe ich dich auch gemocht. Und natürlich an dem Tag, als du mir deinen letzten sou gegeben hast, damit ich Paris den Rücken kehren konnte, und als du dich umgedreht hast und durch den Schnee zurückgestapft bist, da habe ich gemerkt, daß du deinen Umhang verkauft hattest. An jenem Tag, Gilbert, habe ich dich geliebt, und ich habe geweint, als ich meine Manuskripte in mein Bündel geschnürt habe. Doch im großen und ganzen bist du unausstehlich.«
    »Jetzt erwartest du wohl, daß ich auch deine Gedichte lobe.« Gregorys Stimme war nur noch ein Flüstern.
    »Typisch Gilbert, diese Beteuerung, du weißt doch, daß ich gar keine mache.« Bruder Malachi hielt inne und blickte sich mit Bedauern im Laboratorium um. Er schüttelte den Kopf. »Die Glasgefäße, die würde ich gern mitnehmen. Weißt du eigentlich, wie schwer man in London an ein anständiges Philosophenei herankommt?«
    »Wer ist der Tote, Theophilus?«
    »Der da, Gilbert? Noch so ein Ungeheuer, das über die Welt herrschen wollte – kein Verlust für die Menschheit, ganz und gar nicht. Aber, wo ist mein Rührstab?«
    Während Bruder Malachi auf den Knien und keuchend unter dem breiten Tisch voller merkwürdiger Glas- und Kupfergefäße herumkroch, meinte Mutter Hilde: »Lieber Malachi, wir sollten wirklich aufbrechen. Der Morgen graut schon bald, und ich für mein Teil kenne keinen Ort, dem ich lieber den Rücken kehren möchte.«
    »Der Morgen!« rief ich aus. »Mein Gott! Hugo glaubt wahrscheinlich immer noch, daß er im Einzelkampf gegen den Grafen antreten muß! So wie ich ihn kenne, hat er die ganze Nacht geschlafen wie ein Klotz. Man sollte ihn wirklich wecken und ihn ins Bild setzen.« Wie leicht vergaß man doch Hugo. Und wenn das nicht ein Gewinn war.
    »Hugo wer?«
    »Hugo, dein Bruder.«
    »Hugo und gegen den Grafen antreten? Er hätte nicht eine Minute durchgehalten. Der Mann ist zweimal so groß wie er und obendrein ein besserer Schwertfechter.«
    »War.«
    »O ja – war. Aber Hugo hier? In einem Kampf auf Leben und Tod mit dem Grafen? Doch bestimmt nicht meinetwegen.«
    »Nicht ganz. Der Graf hatte seine edle Abkunft in Frage gezogen. Aber er ist deinetwegen gekommen.«
    »Meinetwegen? Dann dürfte er nicht mehr ganz richtig im Kopf sein.«
    »Vermutlich. Aber wahrscheinlich will er dir das selbst erzählen.«
    »Margaret, in meinem augenblicklichen Zustand ist Hugo wohl der letzte Mensch auf Erden, den ich sehen möchte.« Ein Hustenkrampf schüttelte ihn, daß er sich krümmen mußte. »Der absolut letzte ist Vater. Bleib bei mir, Margaret, deine Hände sind so angenehm und warm.«
    »Du warst doch immer der mit den warmen Händen.«
    »Nicht mehr.«
    »Ich werde dich nie verlassen; das weißt du doch, ja?« Ich kniete mich neben ihn und hüllte ihn in den schweren Umhang des Grafen und nahm ihn in die Arme. Er streckte eine Hand aus, zog meine unter den Umhang und schloß die Augen. In der Wärme des erlöschenden Feuers unter dem Alembik schlief er ein, und sein Atem kam in langen, rasselnden Stößen.

    Bis zur Frühmette war es noch ein Weilchen. Noch strahlten die Sterne, als Hugo mitten in der Nacht aufstand. Das Reisen war ihm gut bekommen; er hatte die qualvollen, nächtlichen Wanderungen aufgegeben und seit Monaten wieder richtig geschlafen. Doch jetzt hatten ihn die Alpträume von der mächtigen Gestalt des Sieur d'Aigremont heimgesucht, der in den Schranken auf ihn zukam. Gerade als der Graf ihn vom Pferd geworfen hatte und selber abstieg, um ihm den Gnadenstoß zu geben, fuhr er entsetzt hoch: Ihm war eingefallen, daß er unter einem Fluch stand. Er hatte sich mit einer gräßlichen Sünde befleckt – Gott würde morgen nicht auf seiner Seite sein, selbst wenn er in jeder anderen Hinsicht der bessere Mann war. »Der Fluch, der Fluch«, murmelte er und ging mit großen Schritten zwischen den Strohsäcken auf und ab, auf denen seine Männer friedlich schlummerten. Robert, sein Knappe, drehte sich auf dem Strohsack am Fußende seines Bettes um. Er schnarchte vor sich hin. »Lieber Gott, ich wollte, ich wäre nur ein Reisiger – ein Niemand – mit unbeflecktem Herzen«, flüsterte Hugo neidisch. »Errette mich, Herr, errette mich. Vergib mir. Ich will mich bessern. Ehrenwort. Gilbert kann mir sagen, wie man das macht, wie man sich von diesem Fluch befreit. Irgendwo gibt es sicher einen heiligen Mann, den er kennt. Vielleicht gibt es auch ein Heiligtum für die Verfluchten –

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