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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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doch. Was denn sonst? Und das kann ich dir sagen, leicht ist es mir nicht gefallen.« Bei dem Gedanken an Fliederwasser wurde mir ganz übel.
    »Gewiß hat er dir seine ›Ode an den Sommer‹ rezitiert.« Ich wusch ihn immer noch, dann machte ich mich daran, ihn anzuziehen. Er war so schwach, daß er nicht einmal dabei helfen konnte, die Arme in die Ärmel des schweren Obergewandes zu stecken.
    »Oh, ja. Dieses gräßliche Gedicht mit den Vögeln und Pflanzen. Der Mann hatte nicht die leiseste Ahnung von Sommer. Und keine Spur von Gefühl.«
    Gregory lächelte und hustete erneut. Dann huschte ein eigenartiger Ausdruck über sein Gesicht.
    »Hatte? Ist er tot?«
    »Ja, natürlich. Wieso wäre ich sonst wohl hier? Er hatte Gräßliches mit mir vor, aber als ich ihn deinetwegen aufgesucht habe, ist er aus dem Fenster gesprungen.«
    »Ach, wirklich? Du hast ihn gestoßen?«
    »Nein. Habe ich nicht. Er hat zuviel von seinem Liebestrank getrunken und ist dunkelrot angelaufen – und dann, na ja, dann ist er gesprungen. Wie du dir denken kannst, war ich sehr erleichtert.« Ich setzte mich auf die Hacken und sah mich an seinem Anblick satt.
    »Ich bin auch erleichtert. Aber du hast immer noch eine Sünde auf deinem Gewissen.«
    »Habe ich nicht!« Ich war empört. Doch er hustete und beugte sich vornüber, und da sah ich, daß er lachte.
    »Du hast ihm gesagt, daß dir seine ›Ode an den Sommer‹ gefällt. Und das, Margaret, ist eine Lüge.«
    »Wenigstens eine, die weiß, wie man sich Ärger vom Halse hält.«
    »Du glaubst doch nicht etwa, er hätte mich herausgeholt, wenn ich gesagt hätte, mir gefielen seine geschwollenen Reimereien? O nein. Sowie ich ihm beigepflichtet hätte, wäre ich ein toter Mann gewesen. Ich habe an meinen Beleidigungen gearbeitet, Margaret. Gerade die haben ihn immer wieder zurückgehalten. Und solange er zurückkam, haben sie mich am Leben gelassen. Wenn er das Interesse verloren hätte, es wäre sofort um mich geschehen gewesen. Ich habe ausreichend Zeit gehabt, mir gute Beleidigungen auszudenken – aber manche hatte ich schon überstrapaziert. Viel länger hätte ich nicht durchgehalten.«
    »Gottlob, du änderst dich nie.« Ich kniete mich neben ihn und nahm ihn in die Arme. Aber als ich meinen Kopf an seine Brust schmiegte, hörte ich bei jedem seiner Atemzüge das Gerassel. Lieber Gott im Himmel, weinte ich stumm. Meine Gabe ist zu schwach, ich kann ihm nicht helfen. Verschone ihn. Ich habe schon zuviel durchgemacht.
    »Sim«, hörte ich Bruder Malachi sagen, »mich dünkt, für meine Mühewaltung hätte ich mir etliches verdient – also – hm – Marcus Graecus De igniis , sieht hübsch aus, das wollte ich schon immer haben. Von Aristoteles De lapidibus – nein, das habe ich, und das hier ist schlecht kopiert. Ei der Daus, ja, die Mappae Clavicula – von der habe ich immer nur einen Auszug gehabt. Und eine sehr annehmbare Kopie – dazu noch mit Illuminationen. Arnaldus von Villanova, den nehme ich natürlich auch mit. Opus de Chemia , prächtig, prächtig. Also – das hier – hm. Über die geheime Kunst der Teufelsbeschwörung – das bleibt für die Inquisition da, denn die ruft man gewiß herbei, daß sie diesen Schweinestall ausmistet. Geber, die Summa Perfectionis , ziemlich fleckig vom Gebrauch, aber besser als meine Kopie. Die kommt auch mit. Ja, das dürfte reichen.« Ich wandte mich in Richtung der Stimme und sah mehrere Bände vorn in Bruder Malachis umfänglichem Gewand verschwinden. Gregorys Augen folgten meinen. Er konnte kaum den Kopf drehen.
    »Theophilus. Bist du's am Ende doch? Ich dachte, ich hätte dich nur halluziniert. Welche Narreteien haben dich in dieses Hundeloch geführt?«
    »Mich?« sagte Bruder Malachi. »Ich bin auf der Suche nach einem Übersetzer für ein seltenes Werk, das ich erworben habe. Und rein zufällig bin ich Margaret hier zur Hand gegangen.«
    »Theophilus, du alter Schuft. Ich hätte nie gedacht, daß du mich magst.«
    »Tu ich auch nicht, Gilbert, nein. Du bist ein hoffnungsloser, übellauniger, scharfzüngiger, überheblicher junger Tunichtgut. Wo du auch immer bist, das Unheil folgt dir auf dem Fuße, trotz meiner häufig angebotenen – und in den Wind geschlagenen – guten Ratschläge. Meistens ist mir bereits der Gedanke an dich unerträglich. Heute jedoch mag ich dich. Du bist zu schwach, als daß du mich erzürnen könntest. Und den Tag, an dem du ›Ich huldige Madames Trampeltritten‹ gedichtet hast und ich Tränen gelacht

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