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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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irgendeinen Heiligen. Ich will Buße tun, lieber Gott. Alles, was du willst.« Beten. Vielleicht half beten. Ein Rosenkranz, ja, das war das Richtige. Aber wer hatte einen? Cis, die schon. »Verdammte Schlampe! Wozu braucht sie ihn?« brummte er, beugte sich aus dem Fenster und wollte das dunkle Himmelszelt anstarren. Verschwunden mit diesem alten Geck, diesem Sieur de Soule, dem sogenannten Gesandten. Hatte sich einfach ohne eine Spur von Dankbarkeit oder Treue verdrückt. Was bildete sie sich eigentlich ein, wer sie war?
    Der kalte Nachtwind schob eisige Wolkenbänke über das Antlitz des zunehmenden Mondes. Komm aus deinem Himmel heraus, Gott! schrie Hugo stumm. Zeig dich und sag mir, daß du mich hörst…
    Unten im Hof war Hufgeklapper zu hören. Er blickte hinunter, und da dräute im Mondenschein eine vertraute, riesige Gestalt auf einem großen Rappen. Sie war völlig in einen weiten, schwarzen Umhang gehüllt, der zu beiden Seiten des Sattels herabfiel und dem Pferd im eisigen Nachtwind um die Beine flatterte. Hugo hörte seine tiefe Stimme rufen:
    »Kommt! Ich jage heute nacht.« Und zwei weitere Reiter mit Umhang gesellten sich aus den Schatten zu ihm. Einer hatte einen gekräuselten Bart und buschige Augenbrauen. In dem anderen erkannte Hugo den Mönch, der sich am letzten Abend an den großen Stuhl des Grafen gelehnt und ihm ins Ohr geflüstert hatte. Ihre kleinen, gedrungenen Pferde hielten sich hinter dem riesigen Hengst des Grafen. Während Hugo zusah, schien ein Gefolge von feierlichen Gestalten auf großen, schwarzen Zeltern, so schwarz, daß sie auch kein Fleckchen Weiß aufwiesen, aus dem Nichts aufzutauchen und die ersten drei Gestalten zu begleiten. Auch sie trugen dunkle Umhänge, doch hatten sie ihre Kapuzen so heruntergezogen, daß man ihre Gesichter nicht erkennen konnte – das heißt, wenn sie überhaupt Gesichter hatten. Als sie langsam auf das innere Burgtor zuritten, ging dem entsetzten Hugo auf, daß sie dreizehn an der Zahl waren.
    »Macht auf!« rief die tiefe Stimme des Grafen, und das Burgtor flog ohne das Dazutun des Torwärters weit auf.
    »Feigling!« schrie Hugo ihm vom Turmfenster her nach. »Feigling! Ihr rückt vor mir aus!« Und alle, die er mit seinem Geschrei weckte, rannten zum Fenster und sahen, wie der Graf sein blutleeres Gesicht dem Turmfenster zuwandte und lange, lange zu Hugo emporstarrte, bis er sich am Ende wortlos umdrehte und aus dem Tor ritt.
    »Verdammter Feigling, komm zurück!« Wutentbrannt raste Hugo die Treppe hinunter, nur in die Bettdecke gehüllt und die Nachtmütze noch auf dem Kopf. Unten war alles ungewohnt hell erleuchtet, und aus der Kapelle drangen Laute. Er hörte Singen, und ohne einen Gedanken an seine ungebührliche Aufmachung zu verschwenden, folgte er dem anschwellenden Gesang. An der Tür verhielt er den Schritt, doch die stand schon sperrangelweit offen, und er fuhr entsetzt zurück. Dort, auf einem hohen, schwarz umhüllten Katafalk, lag vor dem Altar der zerschmetterte Leichnam des Comte de St. Médard.
    Keine Menschenseele, die in jener eisigen St. Crispin-Nacht die schwarze Kavalkade gesehen hatte, zweifelte daran, daß es der Schatten des Grafen höchstpersönlich auf seinem letzten Ritt zu den Pforten der Hölle gewesen war.

Kapitel 11
    D u kannst mir glauben, Bruder, ich habe gesehen wie er aus dem Tor geritten ist, und doch lag der Leichnam die ganze Zeit feierlich aufgebahrt.«
    Gregory ruhte auf dem schmalen Bett in der Pilgerhalle, das so nahe wie möglich ans brennende Feuer gerückt war. Er saß halb angelehnt und war mit Decken überhäuft, zuoberst lag eine riesige Robe aus Wolfsfell, aus der man einen Teppich hätte machen können, und Margaret flößte ihm Suppe ein. Er hatte die Augen zwar offen, und doch träumte ihm Unangenehmes. Ihn träumte, daß sein Bruder Hugo aufgetaucht sei und ihm Gespenstergeschichten erzählte, während Margaret sich abmühte, ihn mit Suppe zu ersäufen.
    »Halt«, sagte er zu niemand insbesondere, und der Suppenlöffel verschwand. Er beugte sich vornüber und hustete Blut in das Handtuch, das Margaret ihm hinhielt. Er spürte, wie sie ihn in die Arme nahm und ihn festhielt, während er nach Atem rang.
    »Das ist ein Zeichen, meinst du nicht auch? Bruder, vielleicht werde ich doch noch erlöst. Der Fluch kann von mir genommen werden. Die richtigen Gebete. Eine Wallfahrt womöglich. Bruder, du mußt mir helfen. Ich habe gesündigt.«
    »Ach, wirklich? Wer hätte das gedacht.« Gregory ließ

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