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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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flackernden Licht so eben Gregorys zusammengekrümmte Gestalt ausmachen, die nicht einmal ein Hemd anhatte, das ihn hätte wärmen können.
    »Natürlich sind das Knochen. Was glaubst denn du, was hier unten liegt? Rosen etwa?« Seine Stimme klang so bissig, daß ich neue Hoffnung schöpfte.
    »Auch Totenschädel?«
    »Mehrere.«
    »Einen davon könnte ich gewiß brauchen.«
    »Sim! Du bist gräßlich! Wir wollen ihn herausholen – nicht Andenken sammeln.«
    »Mach Gebrauch von deinem Oberstübchen, Margaret. Ihr laßt mich einfach am Seil nach unten – ich binde es ihm um die Brust – dann hole ich mir meinen Schädel, und ihr zieht mich zusammen mit ihm wieder hoch. So einfach ist das. Weiber!« schnaubte er und tat wie ein erwachsener Mann.
    Und es dauerte auch nicht lange, da hörten wir Sims Stimme aus der Grube hochschallen, und der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit antwortete mit unverständlichen, stotternden Lauten.
    »Hoch den Arm, ja. Meiner Treu, habt Ihr einen ellenlangen Bart! – Wie lange braucht man, bis er so wird? – He, ich wollte Euch doch nicht weh tun – laßt das Schimpfen. – Wie konnte Margaret überhaupt so einen Kerl wie Euch heiraten? – Was haltet Ihr von dem hier? Der Kiefer ist noch dran, bloß Zähne hat er nicht mehr viele. – Nein, der da ist besser. Sollte lieber beide mitnehmen. – Haltet mal, ja? Eine Hand brauche ich natürlich fürs Seil. – Na los, nur keine Müdigkeit vortäuschen, helft mir mal ein bißchen. – He, Margaret! Schnapp dir meine Schädel, wenn er hochkommt, sonst fällt er noch drauf und zertrümmert sie!«
    Und da lag Gregory auch schon neben den vergitterten Löchern und rang nach Atem wie ein Fisch auf dem Trockenen, und ein glücklicher Sim polierte seine Errungenschaften mit dem Ärmel. Gregory wirkte so schwach wie ein kleines Kätzchen, als ich ihn in den großen, pelzgefütterten Umhang des Grafen hüllte und seine Hände mit meinen rieb, um sie warm zu machen.
    »Oh, Margaret, du bist es wirklich«, sagte er, doch seine Stimme klang beängstigend schwach. »Ich habe an dich gedacht – habe dich gesehen – habe dich rufen hören.« Die Haut über seinen Knochen spannte so straff wie Pergament. Wie konnte ein lebendiger Mensch nur so furchtbar dünn sein! Doch die Augen, die aus dem verfilzten Haar und Bart starrten, waren feurig und lebendig. Ich sah, wie er mich anstarrte und schaute und schaute, so als könnte er sich nicht sattsehen. Dann huschte der Anflug eines matten Lächelns über sein Gesicht. Und seine Augen funkelten wie einst halb zärtlich, halb boshaft.
    »Ei, Margaret«, sagte er sanft. »Du hast zugenommen.«
    »Ich? Habe ich nicht!«
    »Komm, komm, du wirst doch nicht leugnen wollen, daß du um die Mitte herum ziemlich füllig bist. Hast es dir nach meinem Aufbruch zu wohl ergehen lassen, wie?«
    »Ich und es mir wohl ergehen lassen? Vor Gram verzehrt habe ich mich! Mich verzehrt und dein Kind getragen! Glaubst du, das ist leicht? Seekrank bin ich gewesen! Und gelaufen und gelaufen bin ich! Den gräßlichen Menschen mußte ich hereinlegen! Und du? Nicht mit einem Gedanken daran gedacht, ob du seine verfluchten Gedichte nicht doch loben solltest; es hätte dir und mir die ganze Mühe erspart!«
    Er ließ sich nach hinten sinken, und sein Lächeln war schwach, aber triumphierend.
    »Ich habe meine Wertvorstellungen, Margaret.«
    »Tragt ihn hoch!« wies ich die Stummen an. Zwei von ihnen übergaben Bruder Malachi und Bruder Anselm ihre Fackeln, hoben Gregory hoch und schwangen ihn so leicht zwischen sich wie einen Sack Kohlköpfe.
    Sie legten ihn auf die Bank in die Alchimistenwerkstatt, und er begehrte kaum auf, als ich ihm das Gesicht wusch und ihm Haar und Bart stutzte. Ich sah, wie seine Augen von meinem Gesicht zu meiner umfänglichen Mitte hin- und herwanderten, und dann schaute er immer verwunderter drein. Anscheinend ging die Vorstellung, daß wir schon bald zu Dritt sein würden, nicht in seinen Schädel.
    »Mach es ihm nicht so schwer«, hörte ich Mutter Hilde hinter mir sagen. Aber ich antwortete nur: »Ich mache es ihm ganz und gar nicht schwer!« und schnippelte schweigend weiter. Dann machte ich mich daran, seine Schwären zu verbinden und hätte am liebsten geweint. Doch das wollte ich ausgerechnet ihn nicht merken lassen.
    »Du hast ihm wohl gesagt, daß dir seine Gedichte gefallen«, flüsterte er. Seine Stimme war furchtbar schwach, und dann bekam er einen Hustenanfall, der mir fast das Herz zerriß.
    »Klar

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