Die Vision
werden darf. Selbst du kannst das sehen.« Sie zeigte auf Gregory, dieses lebende Skelett, der mit einem von Margaret in kaltem Wasser ausgewrungenen Handtuch auf der fiebrigen Stirn dalag. »Er stirbt uns unter den Händen, Malachi.«
»Ach, Hilde«, sagte Bruder Malachi mit einem neuerlichen Anflug von Traurigkeit. »Es ist weitaus leichter, durch Gottes Hand zu sterben als durch die Hand der Inquisition.«
In dieser Nacht stieg das Fieber hoch, und Margaret saß schlaflos am abgedeckten Feuer und wachte und wartete. Als der quälende Schüttelfrost kurz nach Mitternacht einsetzte, schlüpfte sie unter die Decken, um ihn mit dem eigenen Leib zu wärmen. Sie war so erschöpft, daß sie fast auf der Stelle einschlief, den Arm schützend um seine skelettartigen Rippen geschlungen.
Als sie erneut aufwachte, schien das kalte, graue Licht der Berge schon ein paar Stunden ins Zimmer. Das Feuer war wieder angefacht worden. Träge schlug sie die Augen auf, und als sie das tat, da spürte sie, daß die graue Aura des Todes rings um Gregory gewichen war. Sie selber konnte sich kaum rühren; alle Knochen im Leib taten ihr weh, so als hätte sie die ganze Nacht mit dem grimmigen Tod selber gerungen. Sie wandte den Kopf. Hilde war am Feuer und machte ihr gewürzte Milch warm.
»Lebt er noch?« fragte Hilde sanft.
»Ja, Mutter Hilde. Hörst du ihn atmen?« flüsterte Margaret. Sie kam sich so schwach wie ein Katzenjunges vor. Es stimmte, Mutter Hilde hörte, daß sein rasselnder Atem jetzt gleichmäßiger ging.
»Wo ist Malachi?« fragte Margaret.
»Der ist zur Gräfin und erklärt ihr die Zwangslage, in der sie steckt. Er hat sich mit ihrem Arzt abgesprochen, der will schwören, daß der Graf einen Anfall von Fallsucht gehabt hat – Anfälle, die er von Zeit zu Zeit bekam – und daß er versehentlich aus dem Fenster gefallen ist. So kann sie ihn in der Familiengruft beisetzen, statt in ungeweihtem Boden. Er macht ihr den Vorschlag, daß sie uns mit Geld und Pferden und einem Führer versieht, der uns auf Schleichwegen durch die Berge führt. So kann man uns nicht mehr befragen. Auf ihre eigenen Leute ist Verlaß, die halten den Mund. Er muß wohl Erfolg gehabt haben – ich habe schon eine Gruppe von Arbeitern in die Geheimkammern gehen sehen, die vernichten das ganze Beweismaterial. Gewiß ist er bald zurück. Möchtest du die heiße Milch? Du siehst völlig ausgelaugt aus.«
»Genau so komme ich mir auch vor, Mutter Hilde. Es ist, als hätte ich die ganze Nacht mit dem Tod gerungen.« Margaret setzte sich auf und legte die Hände um den warmen Becher; sie fühlte sich so schwach, daß sie ihn nicht an den Mund heben konnte, wollte aber irgendwie die Wärme durch ihre Hände aufnehmen, um wieder zu Kräften zu kommen. Mutter Hilde sah sie zögern, kam ihr zu Hilfe und flößte ihr den Inhalt eigenhändig ein.
»So wie ich dich kenne, Margaret, hast du wahrscheinlich genau das getan.«
Nie im Leben wäre ich lieber im Bett geblieben als an jenem Morgen, als Bruder Malachi kam und uns ankündigte, daß wir auf der Stelle das Chateau verlassen müßten. Also, wenn er kummervoll gewesen wäre, ich hätte es hingenommen, doch gerade sein vermaledeiter Frohsinn machte das Ganze so unerträglich.
»Warum geht ihr nicht einfach allein und laßt uns hier?« knurrte ich ihn an und zog mir die große Wolfsfellrobe über beide Ohren. »Gregory und ich, wir bleiben hier einfach liegen bis zum Frühling, wenn man wieder reisen kann.« Eine hervorragende Idee.
»Unsinn, Unsinn. Es ist alles gerichtet, meine Lieben.« Selbst unter der Robe konnte ich sein zuversichtliches Gewusel noch hören, und so riskierte ich ein Auge, ich wollte doch sehen, was los war. Offensichtlich hatte er den Umweg über die Küche genommen, denn er trug in einer Hand einen Krug mit Apfelschnaps und in der anderen ein großes Stück gesottenes Pökelfleisch in einer durchgeweichten Serviette. Sein neuer Bart stachelte in alle Richtungen, und er sah damit so komisch aus, daß ich einfach lächeln mußte.
»Nur um Margaret, den Faulpelz, aus dem Bett zu locken«, verkündete er. Und während er seine Beute ablegte, verneigte er sich vor dem Bett und zog mit einer ungemein schwungvollen Geste ein riesiges, gekochtes Gänseei vorn aus seinem Gewand. »Siehst du das? Kein Hahnentritt, und noch warm. Bedenke, welche Vorzüge das Frühstücken vor der Reise hat und schenke uns einen Blick deiner Strahleaugen.« Ich kam mit der Nase unter der Decke hervor.
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