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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Höllenhunde mit ihrem ganzen Papier und ihrem lateinischen Gebrabbel sollte man allesamt ihrem gräßlichen Schöpfer zurückschicken, diesem Oberlügner. Es gab nur noch eine schlimmere Sorte, die Richter – insbesondere jene, welche Geschenke von Landräubern und Leuten mit falschen Rechtstiteln annahmen. Leute von gemeinem Blut, die durch den Mund von Rechtsanwälten sprachen, statt von Mann zu Mann, und sich einbildeten, daß sie mit der Unterstützung des Grafen obsiegen könnten. Ha, die würden schon noch merken, daß mit Sir Hubert de Vilers nicht gut Kirschen essen war; er würde den Gegenhebel ansetzen.
    Wie gewöhnlich beruhigte ihn der Anblick seiner Stuten, die bis auf eine friedlich und hochtragend grasten. Der kalte Wind sträubte ihnen das zottelige Winterfell, als sie den Kopf hoben und ihn anblickten. Wandelndes Gold, allesamt. Ja, er würde es tun. Ein Herzog kann jederzeit einen Grafen ausstechen – insbesondere sein Herzog, der größte Kriegsherr ganz Englands. Er würde ihm den französischen Zuchthengst schenken, den berühmten französischen Hengst, den er aus dem Krieg mitgebracht hatte, und das würde vor Gericht die Waagschale zu seinen Gunsten senken. Ein Opfer natürlich, doch nicht so schlimm, wie es den Anschein hatte, da genug Stuten tragend waren. Und der Jüngste war der Hengst auch nicht mehr. Ein prächtiges Tier und immer noch ein Schlachtroß für einen richtigen Mann: Ein Falber, fast siebzehn Handspannen groß und ebenso breit. Taugte auch gut zur Zucht, selbst mit den jämmerlichen, englischen Stuten, mit denen er anfangs hatte kreuzen müssen. Jetzt hatte er die Linie zurückgekreuzt und damit etwas, das sich durchaus sehen lassen konnte. Nur die Brust war noch nicht tief genug. Wenn man irgendwie Brust und Größe des Rappen und Kruppe und Veranlagung des Falben zusammenbekommen könnte – dann wäre er fast am Ziel, ja, fast am Ziel. Natürlich mußte man mit dem Temperament des Rappen rechnen. Feurig, zu feurig, doch das dürfte sich mit dem Alter legen. Es gibt keinen Grund, nicht den geringsten, überlegte der alte Ritter trotz seiner Kopfschmerzen, warum die Franzosen die besten Streitrösser züchten sollten. Wenn alles klappte, würde er es eines Tages haben: das vollkommene englische Schlachtroß.
    Wie er so auf der braunen, schneegesprenkelten Koppel unter dem hohen, finster dräuenden Himmel stand, konnte er für einen Augenblick beinahe den Traumhengst vor sich sehen. Achtzehn Handspannen groß, breit wie ein Haus, mit eisenbeschlagenen Hufen von der Größe einer Bratenplatte und unter dem üppigen Kronenrand kaum zu sehen. Ein Falbe natürlich, die beste Farbe, mit tiefdunklen, samtenen Nüstern und ohne häßliches, fehlfarbenes Auge. Die de-Vilers-Rasse, so dürfte sie heißen, und ein Mann würde sich nicht anständig beritten vorkommen, wenn er kein solches Pferd besaß.
    Doch seine Träumereien wurden von schrillen, dünnen Stimmchen unterbrochen, dazu schnaubte und grollte ein aufgestörter Hengst. Etwa Bauernbälger im Pferch? Nein, bei Gott, die Bälger der Wittib.
    »Hol die Haferkumme und schieb sie durchs Gatter, Alison, und wenn er zur Wand kommt und fressen will, steige ich auf. Dann machst du das Gatter auf. Klar?« Das war die Größere. Wie alt war sie? Für ihn sahen alle Kinder gleich alt aus: klein. Hatte ihre Mutter nicht gesagt, sie wäre fast sechs? Wie ein Eichhörnchen war sie auf die Steinmauer um den Pferch des schwarzen Hengstes geklettert, wobei sie sich mit den Zehen in den Mauerritzen festkrallte, und jetzt tauchte ihr ungebärdiger, roter Lockenschopf auf der Mauerkrone auf, sie machte sich bereit, sich auf den Rücken des Hengstes fallen zu lassen. Die kleine Gestalt zeichnete sich vor dem Morgenhimmel ab, ohne Umhang und barfuß, so kauerte sie wie eine Katze, die zuspringen will. Verdammt nochmal, sie hatte Urgan gereizt; wenn der sich jetzt gegen die Mauer warf, konnte er sich etwas tun. Vor dem Gatter stand die Kleinere in einem Umhang mit Zipfelmütze im Morast.
    »Jetzt, Alison, mach den Riegel auf und lauf weg«, rief das dünne Stimmchen. Der Hengst schnaubte, warf den Kopf zurück und rollte wild mit den Augen, als sich das winzige Wesen auf seinen Rücken fallen ließ. Schon wollte er es an der Mauer zerquetschen, da ging das Gatter auf, und so warf er sich stattdessen mit der mächtigen Brust dagegen, daß es krachend aufflog und Alison in den Schlamm warf.
    »Cecily, nei-i-i-n!« kam von weiter weg ein Schrei aus

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