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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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    A ls die Morgenröte durch die Bettvorhänge blinzelte, hörte ich im Zimmer draußen Bewegung und Gestöhn. Die Welt, der Alltag, hatte uns wieder, so als wäre nichts geschehen. Irgendwer hatte in die Binsen gebrochen, es stank ekelhaft. Die Turmtür stand offen – irgendwie mußten sie den alten Mann in sein großes Bett im Turmzimmer hochgeschleift haben. Doch die, welche die Stiege überhaupt geschafft hatten, waren nicht weiter als bis in den Söller gekommen. In dem Knäuel von Leibern auf dem gegenüberliegenden Bett konnte ich Hugos Kopf und einen seiner Arme ausmachen. Überall auf dem Fußboden lagen weitere, vollbekleidete Zecher herum. Es sah aus, als hätte die Pest das Haus befallen. Gregory öffnete die Augen, zog mich vom offenen Vorhang zurück und riskierte dann selbst einen Blick.
    »Hm. Bacchus' Walstatt«, sagte er und zog den Kopf wieder ein. Dann ließ er sich in das Federgewühl zurückfallen und legte beide Hände hinter den Kopf. Versonnen blickte er zu dem durchhängenden Betthimmel hoch, und auf seinem Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. Durch die geöffneten Bettvorhänge drang ein dünner Lichtstrahl, zeichnete die Linie seines Armes nach und ließ sein dunkles Haar aufschimmern, als ob es immer noch von der rasch dahinschwindenden nächtlichen Feuersbrunst glühte.
    »Mein Gott, war das schön. Ich hatte ja keine Ahnung, daß es so sein würde. Ich meine, verheiratet zu sein und das alles.« Seine Stimme klang zufrieden. O Morgen, ach Morgen, warum mußtest du kommen? Warum müssen wir bei Tage immer so prosaisch sein? Ich wärmte mich an dem Rest der schwindenden Glut, so als könnte mir das Andenken an die vergangene Nacht über den kalten Tag hinweghelfen.
    »Ich bin hungrig, Gregory.«
    »Ich auch. Weißt du noch, wie du mich immer gezwungen hast, vor deinem Unterricht zu frühstücken? Du hast gesagt, ohne Frühstück wäre ich zu nichts zu gebrauchen.« Wie konnte er nach allem, was geschehen war, nur wieder ganz der Alte sein? Wie konnte nur alles beim Alten sein?
    »Wie wäre es, wenn ich nach unten gehen und nachsehen würde, ob jemand in der Küche ist.« Auf einmal war ich am Verhungern.
    »Du hast uns in deinem Haus immer ein gutes Frühstück vorgesetzt. Vater behauptet natürlich, daß Frühstück nur für Kranke ist und alle, ausgenommen Schlappschwänze, bis zum richtigen Mittagessen um elf warten können.« Ich traute meinen Ohren nicht. War das derselbe Mann, der meinen Leib mit einem unstillbaren Feuer entflammt hatte? »Was Gott wohl zu Frühstück sagt?« fuhr er heiter fort. »Na ja, da Er nicht ißt, wäre das für Ihn eine rein theoretische Frage, doch…«
    »Hilf mir, bürste mir die Federn vom Rücken, dann ziehe ich mich an und treibe etwas zu essen auf.«
    »Ei, Margaret, du darfst heute doch nicht das Bett verlassen, sonst denken die noch, daß ich dich nicht hart genug gezüchtigt habe.«
    »Aber ich kann nicht im Bett bleiben. Ich habe keine Kinderfrau, und ich habe den Mädchen versprochen, daß sie heute auf dem Esel reiten dürfen.«
    »Die können ruhig einmal warten. Du kannst nicht aufstehen, bis alle anderen auf sind, und wenn jemand mit dir redet, dann wimmere ein wenig.«
    »Aber hier ist alles voller Federn. Ich will nicht im Bett bleiben.«
    »Tut mir leid, aber das ist ein Befehl. Wer ist hier der Herr im Haus?« Eine seiner Brauen wölbte sich ironisch.
    »Davon geht mein Hunger nicht weg. Willst du mich hier den ganzen Morgen hungern lassen?«
    »Keine Bange, ich schicke jemanden hoch – falls ich jemanden auftreibe.« Und damit ging er pfeifend nach unten.
    Schon bald polterten Schritte die Stiege hoch, und ein Mädchen in Holzpantinen suchte sich durch die Leiber einen Weg zum Bett. Der Krach, den ihr Schuhwerk machte, entlockte ihnen ein Stöhnen, und ich hörte sie sagen: »Meiner Treu, ist das ein Gestank hier!« Und dann tauchte sie mit einem Tablett am Bett auf. Es war Cis, die Waschfrau. Sie hatte sich die Ärmel ihres alten, grauen Wollkleides hochgekrempelt und über den Ellenbogen festgesteckt. Ihr buttergelbes und dampffeuchtes Haar hing ihr in schlaffen Locken um das runde Gesicht. Sie war mir schon aufgefallen als die einzige Frau in einem frauenlosen Haus, eine mollige, emsige, kleine Gestalt, die sich nie viel mit der Wäsche zu befassen schien. Doch aus der Nähe betrachtet war sie eher vollbusig als mollig und zu klein für ihr Alter, das ungefähr bei sechzehn Lenzen liegen durfte. Sie machte so große

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