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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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etwas mit beiden Händen hoch und biß dabei vor Anstrengung die Zähne zusammen. Auf einmal wandte sie ihm das Gesicht zu. Die Haare flatterten ihr wild um die Schultern, und als sich das Licht in ihren haselnußbraunen Augen fing, leuchteten sie einen Augenblick lang ganz gelb. Wie ein Falke, dachte Sir Hubert und zermarterte sich das Hirn, wo er vor langer Zeit, an einem Ort, fern von hier, diesen Blick schon einmal bei jemand anders gesehen hatte.
    »Helft mir, ihn auf die Beine zu bringen«, sagte sie zu dem alten Lord. Und mit einer gelassenen, genauen Geste, wie sie allen großen Reitern zu eigen ist, steckte er das Messer in die Scheide und kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam warfen sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Hengst und hoben seinen Kopf. Er stöhnte und schrie ein wenig, kam hoch und richtete sich auf, während sie zurücktraten. Sir Hubert legte dem Hengst seinen Gürtel über den Rist und brachte ihn, der bei jedem Schritt noch arg humpelte, ans Ufer.
    »Zurück alle miteinander.« Die Stimme des Sieur de Vilers war heiser und ruhig. »Geht nach Haus, zündet ein Feuer an und schafft mir diese Bälger aus den Augen. Ich bringe ihn selbst in den Stall.« Er fror so, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte. Die Frau, das sah er, war blau um die Lippen, wollte den Kopf des Hengstes jedoch nicht loslassen. Das lange, nasse Kleid klebte ihr an den Knien, und aus den langen Ärmeln tropfte das Wasser. Zu anderer Zeit hätte er sie verprügeln lassen, weil sie sich halbnackt zeigte, ohne Überkleid und ohne ordentliche Kopfbedeckung, und obendrein konnte man, wie unanständig, auf dem Rücken die Verschnürung ihres schweren, wollenen Unterkleides sehen. Doch heute blickte er sie nur an, wie sie so vor Kälte schlotternd vor ihm stand, und sagte: »Ihr geht auch nach Hause. Ihr seid ja ganz durchgefroren.«
    »Nein«, sagte sie ruhig, »er hat immer noch Angst.«
    Und so brachten sie Urgan gemeinsam zurück und schlossen ihn in seinem großen Pferch ein. Sir Hubert trieb höchstpersönlich sein Halfter auf und machte seinen Kopf fest, dann rief er nach den Knechten, daß sie sich um seine Wunden kümmerten und ihn abrieben. Er trat zurück und musterte das verletzte Bein. Das Schlachtroß hielt es so, daß es nur mit der Spitze des riesigen Hufs den Boden berührte.
    »Nicht mehr zu gebrauchen«, sagte der alte Lord kopfschüttelnd. »Ohne Fuß kein Pferd. Und wer sagt mir, daß er noch für die Zucht taugt.«
    »Ich kann hierbleiben und mich um das Bein kümmern.«
    »Nichts da. Ihr seid durchgefroren. Das kann John tun.« Der alte Ritter trug immer noch Gregorys Umhang. Der war nur am Saum feucht. Er nahm ihn ab und hängte ihn der fröstelnden Margaret um. »Städterinnen. Kein Standvermögen«, sagte er.
    Das Feuer im Palas war mit grünem Holz angelegt worden und qualmte bei ihrem Eintreten mächtig. Die beiden Knechte zogen den alten Lord direkt vor dem Feuer bis auf die Haut aus und kleideten ihn in ein schweres Wollgewand und eine pelzgefütterte robe de chambre von ungewöhnlicher Prächtigkeit für dieses karge Haus. Da saß er nun, wärmte sich auf und blickte Margaret neugierig an. Jählings fiel ihr ein, daß ihr Haar nicht geziemend bedeckt war und sie nur ihr langes, dunkles Unterkleid anhatte, und da lief sie trotz der Kälte hochrot an.
    »Ihr habt keine Dienerin«, sagte er, als er sah, wie sie Gregorys alten Umhang über ihrem triefenden Kleid zusammenhielt. Sie blickte zu Boden. »Und Ihr liegt nicht im Bett. Offenbar hat Gilbert eine schwache Hand.« Er rief nach seinem Hausverwalter und redete mit ihm. Der Mann ging nach oben und kam mit einer weiteren robe de chambre zurück, diese jedoch für eine Frau. Sie war dunkelrot, steif von Gold- und Silberstickereien und hatte ein Futter aus Zobel. Wortlos deutete Sir Hubert darauf, und der Hausverwalter nahm ihr den Umhang ab und legte sie ihr um. Der alte Lord merkte, daß sie die Stickerei befühlte.
    »Französisch«, sagte er. »Kriegsbeute. Sie gehört Euch. Hab' Euch noch kein Hochzeitsgeschenk gemacht. Ist kalt hier drinnen.«
    »Merci, beau-pere«, sagte sie. Er starrte eine geraume Weile ins Feuer.
    »Und nun, Madame, kommen wir zu Euren Töchtern.« Sie blickte auf seine Pranken.
    »Schlagt sie nicht; Ihr bringt sie um«, sagte sie.
    »Madame, ich versichere Euch, daß ich keinesfalls die Absicht habe, ihnen einen bleibenden Schaden zuzufügen. Sonst könnte man sie nur schwer verheiraten und würde damit ihren Auszug aus

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